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Kurze Chronologie der tunesischen Revolution (gekürzte Version)

Von Helmut Dietrich

Erste Phase (17. Dezember 2010 bis 2. Januar 2011): Der Aufstand im Landesinneren unter wirksamer Nachrichtensperre

Montag, 17. Dezember 2010: Der 26-jährige ambulante Obst- und Gemüseverkäufer Mohamed Bouazizi übergießt sich vor dem Gouverneurssitz von Sidi Bouzid mit Benzin und zündet sich an. Lebensgefährlich verletzt wird er ins Krankenhaus von Tunis eingeliefert. Eine Nachrichtensperre wird verhängt, damit keine Informationen über seinen Gesundheitszustand an die Öffentlichkeit gelangen. Am Freitagabend veranstalten mehrere dutzend DemonstrantInnen ein Sit-In vor dem Gouverneurssitz.

Samstag, 18. Dezember 2010: DemonstrantInnen versuchen in den Gouverneurssitz einzudringen. Besucher eines Straßenmarktes schließen sich ihnen an. Es kommt zu ersten Zusammenstößen mit der Polizei, die Tränengas einsetzt.

Sonntag, 19. Dezember 2010: Polizeiliche Spezialeinheiten gehen auf den Straßen in Stellung. Auf Facebook gibt es bereits erste Fotos von den Auseinandersetzungen. Tunesische Staatsvertreter äußern sich auch auf Nachfrage nicht.

Montag, 20. Dezember 2010: Die tunesische Presseagentur TAP meldet die Ereignisse in einem anonymen Kurzbericht. Al Dschasira und Tunis-News melden die Reaktionen der Oppositionsparteien. Diese äußern sich vorsichtig solidarisch und fordern einen „nationalen Dialog“. In Sidi Bouzid wird ein Gewerkschaftstreffen abgehalten, zu dem auch zwei Vorstandsmitglieder der Union générale des travailleurs tunisiens (UGTT) kommen. Auf dem Treffen formulieren die Gewerkschaften zwei Forderungen: Freilassung aller Festgenommenen und eine neue regionale Entwicklungs- und Beschäftigungspolitik.

Dienstag, 21. Dezember 2010: Die tunesische Regierung denunziert die Oppositionsparteien. Der beginnende Aufstand gehe auf sie zurück, sie würden die Verzweiflung instrumentalisieren. Die Unruhen weiten sich auf andere Kleinstädte der Region aus.

Mittwoch, 22. Dezember 2010: In Sidi Bouzid steigt am Mittwoch der 24-jährige Houcine Neji aus Protest auf einen Strommast und stirbt durch den Stromschlag. Vorher ruft er der Menge zu: „Kein Elend mehr! Keine Arbeitslosigkeit mehr!“

Freitag, 24. Dezember 2010: Auf der Sitzung der Regierungspartei RCD in Sidi Bouzid werden

regionale Entwicklungsprojekte im Wert von umgerechnet 7,5 Millionen Euro besprochen. Am Nachmittag kommt es in der Kleinstadt Menzel Bouzayene, 60 Kilometer von Sidi Bouzid entfernt, zu Unruhen. Mehr als 2.000 Personen demonstrieren. Die Nationalgarde umzingelt die Stadt, dann schießen Nationalgardisten auf die DemonstrantInnen. Der 18-jährige Mohamed Ammari stirbt durch einen Schuss in die Brust, zehn weitere Personen erleiden Schussverletzungen.

Samstag, 25. Dezember 2010: Die Behörden kündigen an, dass 1.300 Stellengesuche von HochschulabsolventInnen und auch von Nichtdiplomierten geprüft würden. Polizei und Militär haben den Verkehr rund um die Kleinstädte Bouzayene, Meknassy und Mizouna blockiert und brechen in Häuser ein.

Erstmals kommt es in Tunis zu einer Solidaritätsdemonstration. Fünfhundert MenschenrechtsaktivistInnen, RechtsanwältInnen,Studierende und einfache GewerkschafterInnen demonstrieren vor der Gewerkschaftszentrale in der Hauptstadt.

Sonntag, 26. Dezember 2010: In der Nacht von Samstag auf Sonntag kommt es an mehreren Orten in der Region zu Unruhen. Ein weiterer arbeitsloser Hochschulabsolvent, der 34-jährige Lotfi Guadri, begeht Selbstmord. Er soll aufgrund seiner fünfjährigen Arbeitslosigkeit psychisch instabil gewesen sein. Man findet ihn in einem Brunnen bei Sidi Bouzid.

In Ben Guerdane an der Grenze zu Libyen demonstrieren 800 Arbeitslose und drohen mit Aktionen.

Die Demonstrationen weiten sich auf andere Regionen aus: nach Médenine, Kairouan, Sfax, auf die Kerkennah-Inseln und nach Sousse.

Montag, 27. Dezember 2010: Im ganzen Land tagen die lokalen, regionalen und nationalen Regierungsinstanzen. Der Bürgermeister von Sidi Bouzid und zwei Beamte und eine Beamtin des Ordnungsamts werden vom Dienst suspendiert.

In Tunis findet eine vor allem von LehrerInnen und GesundheitsarbeiterInnen besuchte, mehrere hundert TeilnehmerInnen zählende Gewerkschaftskundgebung statt; die UGTT-Spitze beteiligt sich nicht. Es kommt zu Auseinandersetzungen mit der Polizei.

Dienstag, 28. Dezember 2010: Staatspräsident Ben Ali hält erstmals seit Beginn der Unruhen eine Fernsehansprache „an das tunesische Volk“. Er sieht nur eine „Minderheit von Extremisten und aufheizenden Söldnern“ am Werk und droht, „das Gesetz“ in aller Härte anzuwenden. Außerdem spricht er Drohungen aus gegen Tunesier, die in Al Dschasira-Sendungen auftreten. Er zeigt sich beim Krankenhausbesuch von Mohamed Bouazizi, der von Kopf bis Fuß verbunden ist.

Das größte deutsche Unternehmen in Tunesien, der Autozulieferer Leoni, kündigt an, in Sidi Bouzid ein neues Werk zu eröffnen.

Der libysche Staatschef Muammar al-Gaddafi ordnet die vollständige Öffnung der tunesisch-libyschen Grenze zugunsten der „tunesischen Brüder und Schwestern“ an.

In Sidi Ben Aounn und in Gafsa-Ksar kommt es zu zwei neuen Fällen versuchten Suizids durch Verbrennung. Tunesische RechtsanwältInnen halten vor dem Obersten Gericht in Tunis eine regierungskritische Kundgebung ab. Die JournalistInnengewerkschaft SNJT kritisiert die „Medienblockade“. KorrespondentInnen wird der Zugang zur Region Sidi Bouzid verweigert.

In Algier kommt es im Viertel M’hamed (Belcourt) zu Unruhen. Die Bewohner fordern bessere Wohnungen.

Mittwoch, 29. Dezember 2010: In Sidi Bouzid werden 21 neue Festeinstellungen und 200 neue Zeitverträge für langzeitarbeitslose Diplomierte verkündet. Verschiedene Regierungsposten werden umbesetzt.

Donnerstag, 30. Dezember 2010: Die Polizei hindert SchülerInnen, Studierende und GewerkschafterInnen in mehreren Städten an der Durchführung von Demonstrationen. Staatspräsident Ben Ali entlässt den Gouverneur der Region Sidi Bouzid und zwei weitere Gouverneure. EinwohnerInnen Sidi Bouzids protestieren gegen die tunesische Bank BTS, da sie sich weigere, günstige Kredite an junge Personen zu vergeben.

Freitag, 31. Dezember 2010: Der 24-jährige Demonstrant Chawki Belhoucine Hadiri, am 24. Dezember 2010 in Menzel Bouzayene angeschossen, erliegt im Krankenhaus von Sfax seinen Verletzungen.

Die Auseinandersetzungen beginnen, sich auf ganz Tunesien auszuweiten. Demonstrationen werden gewaltsam aufgelöst. Mehrere JournalistInnen werden von der Polizei geschlagen und bedroht. Am Abend werden die Unruhen in einer Diskussionssendung des privaten tunesischen Fernsehsenders Nessma TV erstmals unumwunden thematisiert. In Tunis und anderen Städten halten hunderte von RechtsanwältInnen Kundgebungen ab. In ganz Tunesien wird die Verwendung des Internets durch Verlängerung der Ladezeiten erschwert, eine Vielzahl von Webseiten wird gänzlich gesperrt.

Sonntag, 2. Januar 2011: Mohamed Bouazizi verstirbt am Abend. In der Kleinstadt Thala bei Kasserine kommt es zu schweren Auseinandersetzungen mit zahlreichen Verletzten.

Zweite Phase (3. bis 10. Januar 2011): Erste internationale Aufmerksamkeit und das Blutbad im Landesinneren

Montag, 3. Januar 2011: An mehreren Schulen kommt es – die Schulferien sind zu Ende – zu Versammlungen und auch zu Unruhen. Bei den Demonstrationen geht es auch um die verbreitete Arbeitslosigkeit und die steigenden Preise für Lebensmittel.

Die Webseiten der Regierung und ihrer verschiedenen Ministerien sowie die einer Bank werden ab diesem Montag tagelang durch Internet-Aktivisten lahmgelegt. Andere offizielle Websites werden „gekapert“.

Mittwoch, 5. Januar 2011: Mohamed Bouazizi wird in Sidi Bouzid bestattet. Am Trauerzug beteiligen sich 5.000 Personen. Die Polizei hindert die Demonstration am Gang durch die Stadt und zu dem Ort der Selbstverbrennung; sie greift die DemonstrantInnen mit Tränengasgranaten an. Die DemonstrantInnen setzen das Gebäude der Regierungspartei in Brand.

In Tunis werden Studierendenproteste auf dem Campus dadurch erstickt, dass sich zivil gekleidete Sicherheitskräfte in erste Ansammlungen mischen und alle, die Reden halten wollen, persönlich bedrohen.

Schwerste Unruhen in ganz Nordalgerien.

Donnerstag, 6. Januar 2011: Landesweiter Streik mit Kundgebungen fast aller 8.000 in Tunesien registrierten RechtsanwältInnen, aus Protest gegen die Polizeiangriffe auf die Solidaritätskundgebung vom 31. Dezember 2011. Mittlerweile sind zahlreiche BloggerInnen und Internet-AktivistInnen verhaftet worden.

In Paris empfängt die französische Außenministerin Michèle Alliot-Marie, die ihren Winterurlaub in Tunesien verbracht hat und freundschaftlich wie geschäftlich mit der tunesischen Herrscherclique verbunden ist, den tunesischen Außenminister Kamel Morjane.

Freitag, 7. Januar 2011: Landesweite Mobilisierung der SchülerInnen und LehrerInnen. Die Polizei stürmt die Universität Sousse während einer Vollversammlung.

Samstag, 8. Januar 2011: In Thala, Regueb und Kasserine kommt es zu heftigen Auseinandersetzungen. Die Polizei schießt zunächst mit Gummigeschossen, dann mit scharfer Munition. – Die europäischen Medien beginnen über Tunesien zu berichten.

Sonntag, 9. Januar 2011: Kasserine, Regueb und Thala sind von Spezialeinheiten der Polizei eingekesselt und vollständig von der Außenwelt abgeschnitten. Das Telefonnetz, der Mobilfunk und das Internet sind gesperrt. „‚Wir haben keine Angst‘, skandieren in Tunesien die jungen DemonstrantInnen und wehren sich mit Steinen und Molotowcocktails gegen Spezialeinheiten der Polizei und schwer bewaffnete Soldaten. Dem tunesischen Innenministerium zufolge sterben während der Auseinandersetzungen an diesem Wochenende 14 Menschen. Internationale Presseagenturen sprechen von 23 Opfern. Die Menschenrechtsorganisation Conseil national pour la liberté en Tunisie (CNLT) legt eine Liste mit mehr als fünfzig Namen von der Polizei erschossener Personen vor.

Das Krankenhaus in Kasserine, in dem sich viele Schwerverletzte befinden, wird vom Militär besetzt.

In Regueb geht die Polizei gegen Begräbnisumzüge vor. Die Armee versucht, sich zwischen Polizei und Bevölkerung zu stellen. Weitere Demonstrationen werden unter anderem in El Hamma, Bizerte, Gafsa, Redayef und El Ksar abgehalten. – In Tunis gehen Spezialeinheiten der Polizei in Stellung.

Die Unruhen in Algerien haben nachgelassen. Die Regierung hat die Preise für Grundnahrungsmittel gesenkt. Die politischen Parteien und eine Vielzahl autonomer Gewerkschaften sind auf Distanz zu den DemonstrantInnen gegangen.

Montag, 10. Januar 2011: In verschiedenen Stadtteilen von Tunis finden Kundgebungen statt. Anschließend ziehen demonstrierende SchülerInnen und Studierende zu Tausenden vom Stadtrand in die Innenstadt. Dort werden ihre Demonstrationen von Spezialeinheiten der Polizei aufgelöst.

In Kasserine werden demonstrierende Rechtsanwälte von der Polizei eingekesselt. Die Polizei erschießt im Laufe des Tages an verschiedenen Orten der Stadt Passanten. Bei neuen Unruhen in ganz Tunesien kommen an diesem Montag allein in Kasserine mehr als zwölf Menschen ums Leben.

Die tunesische Regierung ordnet die Schließung aller Schulen und Universitäten auf unbestimmte Zeit an. – Fernsehansprache von Ben Ali: Er verspricht 300.000 neue Arbeitsplätze in den kommenden zwei Jahren. Die Unruhen seien „ein Werk maskierter Banden“. Die Brandattacken auf öffentliche Gebäude und die (tatsächlich von Polizeieinheiten und Milizen begangenen) Einbrüche in Privathäuser seien „terroristische Akte“, die aus dem Ausland gesteuert würden. Nach Ende der Rede strömen die Menschen trotz Ausgangssperre aus Protest auf die Straße.

Dritte Phase (11. bis 14. Januar 2011): Massendemonstrationen auch in der Hauptstadt; Sturz Ben Alis

Dienstag, 11. Januar 2011: Die beiden Hacker, die tunesische Regierungswebseiten attackiert haben sollen, werden zu Haftstrafen von sechs Monaten beziehungsweise fünf Jahren und zu Geldstrafen von umgerechnet bis zu 10.000 Euro verurteilt. – Die Polizei umstellt die Büros der tunesischen JournalistInnengewerkschaft und der oppositionellen Wochenzeitung Al Maoukif in Tunis.

In der Stadt Kasserine im Landesinneren kommt es zu schweren Auseinandersetzungen. Dort gibt es Tote, auch durch polizeiliche Scharfschützen, die auf Dächern postiert sind. Polizisten schießen auf Begräbnisumzüge.

Laut Gewerkschaftern plündern Zivilpolizisten in den Städten des Landesinneren Läden und Privathäuser. Zahlreiche Demonstrationen, die von Polizei aufgelöst werden.

Die Oppositionsparteien fordern die Bildung einer vollständig neuen Regierung, die Freilassung aller Gefangenen, die Aufnahme eines Dialogs mit den legitimen VertreterInnen der Bevölkerung, die Ausarbeitung eines Entwicklungsprogramms und die Meinungs- und Versammlungsfreiheit. Die politische Opposition geht noch immer davon aus, dass Ben Ali bis 2014 Präsident bleiben wird, auch im Falle vorzeitiger Wahlen. – Die französische Außenministerin Michèle Alliot-Marie spricht sich vor der französischen Nationalversammlung für die verstärkte Unterstützung Ben Alis bei der Aufstandsbekämpfung aus.

In Jordanien senkt der König nach anhaltenden Protesten die Preise für Grundnahrungsmittel.

Mittwoch, 12. Januar 2011: Staatspräsident Ben Ali kündigt am Mittag die Entlassung des Innenministers Rafik Hadj Kacem und die Freilassung aller auf Demonstrationen Verhafteten an – mit Ausnahme derjenigen, die „sich am Vandalismus beteiligt haben“. Er verspricht außerdem die Einrichtung einer Kommission zur Untersuchung der Korruption im Lande. – In der Nacht von Dienstag

auf Mittwoch wird die Repression im Landesinneren verschärft. In Sidi Bouzid, Kasserine, Thala, El Hamma, Béja, Nabeul, Bizerte und an anderen Orten sterben insgesamt acht Menschen bei Demonstrationen und Auseinandersetzungen. Kasserine ist nach wie vor durch Polizeiblockaden vollständig von der Außenwelt abgeschnitten, Internet und Mobilfunk sind gesperrt. Demonstrationen und Tote an vielen Orten. Die DemonstrantInnen fordern überall den Rücktritt des Präsidenten: Die Parole „Ben Ali, verschwinde!“ wird auf Französisch und Arabisch gerufen („Ben Ali, dégage!“ / „Ben Ali, berra!“). In der Hafenstadt Sfax, der tunesischen Industriemetropole, wird ein Generalstreik abgehalten.

In der Nacht von Dienstag auf Mittwoch fahren bewaffnete Soldaten, Panzer und Armeelaster zur Verstärkung der dortigen Sicherheitskräfte in die Hauptstadt Tunis. Sie stammen größtenteils aus den ärmeren Landesregionen. Die Armee wird nun erstmals im Stadtgebiet von Tunis eingesetzt. Ab Mittwochnachmittag kommt es zu Auseinandersetzungen in den militärisch belagerten ärmeren Stadtteilen Rades, Ettadhamen, Intilaka, El Mnihla sowie im Stadtzentrum. Die Polizei setzt Tränengas ein. DemonstrantInnen versuchen wiederholt, auf der Avenue Habib Bourguiba bis zum Innenministerium vorzudringen. In den Armenvierteln ist die Zahl der von der Polizei Erschossenen am höchsten (auch an den Folgetagen).

Vor der Gewerkschaftszentrale in Tunis demonstrieren 2.000 GewerkschafterInnen gegen das Regime und fordern die Bestrafung der für den Tod von DemonstrantInnen verantwortlichen Sicherheitskräfte. Die Kundgebung ist von riesigen Polizeiaufmärschen umgeben. Am Nachmittag

kommt es im Stadtzentrum zu schweren Auseinandersetzungen. Ein Demonstrationszug versucht die Avenue Habib Bourguiba zum Innenministerium hinunterzuziehen, wird aber von der Polizei mit Tränengassalven gestoppt. Der Generalstabschef der Landstreitkräfte General Rachid Ammar wird abgesetzt. Er hat sich geweigert, den Soldaten zu befehlen, die Unruhen niederzuschlagen.

Ein Ausspruch des kanadischen Radiomoderators Paul Houde – „Lasst Ben Ali nicht entkommen!“ – erreicht die tunesische Opposition über das Internet. Hintergrund dessen ist, dass die zwei Töchter des Präsidenten und seiner Frau Leïla Trabelsi nach Montréal geflohen sind. Die dortige Villa der Präsidentenfamilie wird mit blutroter Farbe beschmiert; die Bilder sind dank Facebook und Twitter auch in Tunesien zu sehen. Von Leïla Trabelsi heißt es, sie sei nach Dubai geflohen. Überall im Land werden die überdimensionalen Präsidentenbilder von Gebäudefassaden heruntergerissen.

Donnerstag, 13. Januar 2011: In Béja und in Tabarka kommt es zu schweren Auseinandersetzungen. In Ariana, einem Stadtteil von Tunis, werden DemonstrantInnen von Milizen der Regierungspartei mit Knüppeln angegriffen. Das Innenministerium verfügt für die Großregion Tunis eine nächtliche Ausgangssperre. Die Armee zieht sich aus Tunis zurück und überlässt die Hauptstadt den polizeilichen Spezialeinheiten. In der gesamten Stadt kommt es zu Demonstrationen und Zusammenstößen. Im Laufe des Tages werden in Tunis mindestens 13 Zivilisten von der Polizei erschossen. Ab Mittag strömen zehntausende DemonstrantInnen auf die Avenue Habib Bourguiba im Stadtzentrum, so ist die Hauptstraße von Tunis, die Avenue Bourguiba, zu einem riesigen Diskussionsraum geworden. Ben Ali hält eine Fernsehansprache Er hebe den Schießbefehl auf. Außerdem kündigt der Präsident eine Senkung der Preise für Grundnahrungsmittel, Pressefreiheit, die Abschaffung der Internetzensur und eine schrittweise Demokratisierung an. Bei der Präsidentschaftswahl 2014 werde er nicht erneut kandidieren. Ben Alis Aussprüche „Genug geschossen!“ und „Ich habe euch verstanden!“ („Fehimtkoum!“) werden noch in der Nacht zu skurrilen Videoclips verarbeitet. Nach der Fernsehansprache demonstrieren Ben Ali-Anhänger in der Innenstadt von Tunis. An vielen anderen Orten ziehen jedoch RegimegegnerInnen auf die Straße, unter ihnen viele Frauen. Die Polizei erschießt nach Aussage von Ärztevereinigungen noch am selben Abend 13 DemonstrantInnen. Damit erhöht sich laut AFP die Zahl der vorläufig registrierten Toten auf 66.

Freitag, 14. Januar 2011, 8:14 Uhr: Der tunesische Außenminister Kamel Morjane erklärt, dass er die Bildung einer „Regierung der nationalen Einheit“ für möglich halte. In der Region Tunis findet ein Generalstreik statt. Ab 9:00 Uhr werden vor dem UGTT-Sitz in Tunis und an vielen anderen Orten in der Stadt kleinere Kundgebungen abgehalten. – 14:00 Uhr: Hunderttausende demonstrieren vom UGTT-Sitz in Tunis durch die Innenstadt zur Avenue Habib Bourguiba. Die DemonstrantInnen drängen die schwerbewaffneten Polizeiabsperrungen fort. Die Polizei kann nur die letzte Sperre direkt vor dem Innenministerium halten. Riesige Demonstrationen finden auch in Sidi Bouzid, Regueb, Kairouan, Sfax, El Kef, Gafsa, Ras El Djabel und anderen Städten statt. Die Parole lautet überall: „Ben Ali, verschwinde“ („Ben Ali, dégage!“ / „Ben Ali, berra!“). An vielen Orten verbrüdern sich DemonstrantInnen mit den Militärs. – 14:38 Uhr: In Tunis schießen Polizisten Tränengasgranten aus dem Innenministerium in die Menge. 15:18 Uhr: Vor dem Innenministerium, dem Außenministerium und den Fernseh- und Radioanstalten fahren Panzer auf. – 15:59 Uhr: Premierminister Mohammed Ghannouchi erklärt, dass Präsident Ben Ali die Regierung entlassen habe und er mit der Bildung einer neuen Regierung beauftragt worden sei; in sechs Monaten würden Wahlen abgehalten werden. – 16:41 Uhr: In einem Regierungskommuniqué wird für das gesamte Land der Ausnahmezustand ausgerufen. Die Armee und die Polizei werden ermächtigt, auf jeden Verdächtigen zu schießen, der ihren Befehlen nicht Folge leistet oder zu fliehen versucht. Die Regierung kündigt auch eine Verlängerung der nächtlichen Ausgangssperre an. Auch ein Versammlungsverbot wird verhängt, wobei jede Gruppe von mehr als drei Personen als Versammlung definiert wird. – 17:00 Uhr: Das Militär schließt den tunesischen Luftraum, wohl um die Flucht von Ben Ali zu ermöglichen. – 17:14 Uhr: Der Vorsitzende der verbotenen Kommunistischen Arbeiterpartei (PCOT) Hamma Hammami wird aus der Haft entlassen. – 17:30 Uhr: Es heißt, Ben Ali sei mit seinem Flugzeug „Oscar Oscar“ vom Flughafen Tunis-Karthago geflohen. 17:40 Uhr: Die tunesischen Oppositionsparteien fordern in Paris den Rücktritt Ben Alis, die Bildung einer Übergangsregierung und die Abhaltung von Wahlen innerhalb von sechs Monaten. – 18:00 Uhr: Der tunesische Premierminister Mohammed Ghannouchi erklärt

im staatlichen Fernsehsender Tunis 7, dass Ben Ali das Land verlassen habe und erklärt sich zum Interimspräsidenten.– Auf dem Flughafen Paris-Roissy werden ungefähr sieben Tonnen Material

(Tränengasgranten und anderes) entdeckt, das von der Firma Sofexi an das tunesische Innenministerium geliefert werden sollte.

Am nächsten Tag wird es in der algerischen Tageszeitung Le Quotidien d’Oran zu den Ereignissen in Tunesien heißen: „Das wird anstecken, daran besteht kein Zweifel.“ Gaddafi ist weltweit das einzige Regierungsoberhaupt, das Ben Ali auch nach dessen Sturz verteidigt.– Nach Angaben des UN-Menschenrechtsausschusses hat der fünfwöchige tunesische Aufstand 147 Menschenleben gefordert, hinzu kommen 72 Menschen, die in den folgenden Tagen bei Gefängnisrevolten umkommen.

Die Langversion dieser Chronologie ist in Sozial.Geschichte Online 5 (2011) erschienen und kann hier als pdf runtergeladen werden.