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Augenzeugenbericht des Sturms auf die Zäune von Ceuta und Melilla

Folgender Augenzeugenbericht wurde auf dem Festival der Karawane für die Rechte der Flüchtlinge und MigrantInnen im Juni 2010 in Jena/Deutschland mündlich vorgetragen. Der Sturm auf die Zäune fand im Oktober 2005 statt.

Der Wald war so bevölkert wie nie zuvor. Konflikte zwischen den Nationalitäten schwelten. Die in der Überzahl waren, wollten das Recht des Stärkeren durchsetzen. Die Chairmans versuchten, die Einheit wieder herzustellen und gründeten die „Afrikanische Union“. Die Union beschloss, einen Massensturm zu organisieren, den die Kameruner „Ho-Ha“ nannten. Alle sollten sich an diesem Sturm beteiligen, denn die Organisatoren hielten ihn für eine einmalige Chance, nach Melilla zu gelangen. Alle machten sich daran, Leitern zu bauen. Es sollten Gruppen gebildet werden, jede Gruppe brauchte zwei Leitern, die eine, um den niedrigeren Drahtzaun auf der marokkanischen Seite zu erklettern, ungefähr drei Meter, „Anlegeleiter“ genannt, die andere hieß „Überstiegsleiter“, war zweimal so lang wie die erste und für den zweiten Drahtzaun. Die Gruppen sollten nur aus fünf Personen bestehen, damit das Klettern schnell vor sich gehen konnte. Die Leute aus dem Wald sollten sich in der Nacht verstecken, um die Wachen am Tag X zu überraschen. Diese zeigten sich auch erstaunt über die vermeintliche Ruhe und fragten Kameraden, die sie untertags trafen, warum sie nicht mehr versuchten, über die Drahtzäune zu klettern. Die Antwort war immer dieselbe: „Wir sind müde und wollen zurück nach Hause“.

Die Chairmans hatten den Sturm genauestens geplant. Die Angriffspunkte waren im allgemeinen Stellen, an denen der Stacheldraht unten am Drahtzaun, das heißt auf ungefähr einem Meter Höhe, beschädigt war. Diese Stellen lagen weitab von den Wohngebieten. Sie wurden auf die verschiedenen Nationalitäten aufgeteilt: entlang des Meeres „Mawari“, „Golgotha“ auf dem Hügel nahe dem Haupttor, „Frankana“ hinter dem zentralen Polizeiposten, der Friedhof, wo die marokkanischen Schmuggler mit Drogen und Schwarzwaren handelten, „Buses“ genannt; der Olivenhain in der Nähe der Moschee, von dem aus viele den Überstieg geschafft hatten, der Flughafen, von wo aus man leicht in die Stadt gelangen konnten, die „Antennen“, der Ort, den die Nigerianer bevorzugten, obwohl zwei von ihnen dort von marokkanischen Wachen erschossen worden waren.

Die verschiedenen Gruppen sollten an allen diesen Stellen gleichzeitig zum Sturm übergehen, um die Guardia auf der spanischen Seite sowie die marokkanischen Wachen zu überraschen, die bei Angriffen sofort Verstärkung anforderten.

Alle Nationalitäten wurden ermahnt, während des Baus der Leitern alles nochmals genau zu durchdenken. Die Besammlung war für 19 Uhr angesetzt. Die Chairmans hatten zwei starke Männer pro Gruppe ausgewählt, die die ersten marokkanischen und spanischen Wachen aufhalten sollten.
Gegen 17 Uhr verlassen die Gruppen den Wald und nähern sich dem Drahtzaun. Sie achten darauf, von den Anwohnern nicht bemerkt zu werden, denn diese sind sehr geschwätzig. Die Kameruner sollen sich im Olivenhain treffen. Der Kommissar oder Anführer hat die Gruppe nochmals inspiziert und jedem einzelnen eingeschärft, den verfluchten Drahtzaun mit der größten Entschlossenheit zu stürmen. An Ort und Stelle muss man zuerst auf dem Bauch durch das Gras bis zum Drahtzaun robben, um nicht von den Wachposten bemerkt zu werden. Alle haben ihren Blick auf die zwei Drahtzäune gerichtet und beobachten die Bewegungen der spanischen Wachleute. Sie konzentrieren sich strikt auf das Ziel, denn der Chairman hat gewarnt: „Keinem von Euch darf auch nur der geringste Fehler passieren, und wehe dem: Er täte besser daran, aus Marokko zu verschwinden, denn ich werde ihm die Haut abziehen“.

Um 19 Uhr gibt der Gruppenleiter mit einer Pfeife das Signal. Die Wachen sind überrascht von der menschlichen Flut von Subsahariern, die auf sie zukommt. Die schnellsten „Anleger“ klettern über den Drahtzaun auf der marokkanischen Seite und sind schon zwischen den zwei Zäunen. Auf der spanischen Seite wird versucht, sie mit Gummigeschoßen und Tränengas zu stoppen. Einige lassen sich nicht aufhalten und klettern über den zweiten Zaun. Auf der spanischen Seite angekommen kämpfen sie gegen die Guardia an, die versucht zu verhindern, dass sie sich den Wohngebieten nähern. Diejenigen, die im Stacheldraht hängen geblieben sind, werden getreten, erdrückt und können nicht weiter. Sie weinen und schreien verzweifelt. Andere stecken zwischen den zwei Drahtzäunen und können weder vor noch zurück auf die marokkanische Seite. Der Kampf zwischen den kräftigen Kameraden und den spanischen Wachleuten ist hart. Die Flinksten oder die am meisten Glück haben entkommen und tauchen in der Stadt unter. Diejenigen, die zwischen den Drahtzäunen blockiert sind, ringen um Atem wegen dem Gas, werden ohnmächtig, mehrere von ihnen erbrechen Blut.

Auf der marokkanischen Seite stürzen die Bewohner aus den umliegenden Häusern und beobachten das Schauspiel. Die Szene ist grauenhaft anzusehen. Viele Kameraden kriegen Gummikugeln mitten ins Gesicht. Sie haben gebrochene Arme oder Beine, sind am Ende ihrer Kräfte und können nicht um Hilfe rufen. Die Guardia gewinnt die Überhand, durch die Verstärkungstruppen sind sie jetzt dreimal so viele. Sie überwältigen viele, die es geschafft haben, die Zäune zu überwinden und jetzt nicht fliehen können. Der Lärm ist ohrenbetäubend, Schmerzenschreie, Schüsse und die Schreie der Leute vor ihren Häusern, die diesem Schauspiel beiwohnen.

Die marokkanischen Wachen versuchen, die Kameraden festzunehmen, die auf ihrer Seite zurückgeblieben sind, aber diese zerstreuen sich und schaffen es, in den Wald zu flüchten. Fabien und Charly sind beim Signal zum Sturm aus Angst vor der Gewalt der Guardia abgehauen. Auch viele andere Kameraden haben beim Anblick der Verstärkungstruppen die Flucht ergriffen. Sie warten aufmerksam und geduldig hinter den Büschen darauf, was mit ihren Brüdern geschieht, die zwischen den Drahtzäunen hängen geblieben sind. Einige Fälle sind kritisch, die Ohnmächtigen werden für tot gehalten. Ein Kamerad aus Kamerun hat einen Schuss mitten ins Auge abbekommen.

Den Berechnungen der Chairmans zufolge sollte der Sturm „Ho-Ha“ in 10 Minuten und noch vor dem Eingreifen der Verstärkung abgewickelt sein. Leider hat er länger gedauert als vorgesehen, fast eine halbe Stunde. Die spanischen Wachen sind vervierfacht worden und haben den Kameraden einen erbitterten Widerstand entgegen gesetzt.

Eine Ambulanz kommt und transportiert die kritischsten Fälle ab. Die Kameraden, die sich zwischen den Zäunen befinden, werden in zwei Gruppen aufgeteilt, ohne Rücksicht auf ihren Zustand. Eine vom Kommandanten der Guardia ausgewählte Gruppe wird sofort auf die marokkanische Seite ausgewiesen, nachdem sich die zwei Seiten abgesprochen haben. Vor dem Gendarmerieposten wird die Gruppe von den Hilfswachen geschlagen und sofort auf Lastwagen verladen. Fabien und seine Freunde kehren entsetzt in den Wald zurück und suchen Zuflucht an einem neuen Ort weitab von den Ghettos, um dort unter grösster Vorsicht die nächsten drei Tage zu verbringen.