August 2016 | Rasthaus-Newsletter Nr. 4

1. Vorbemerkung

Emmanuel Mbolela, der in den Niederlanden lebt und zum Koordinationskreis des Rasthauses gehört, ist erst kürzlich von einem zweiwöchigen Aufenthalt in Marokko zurückgekommen (wo er selber jahrelang festgesessen ist). Vor diesem Hintergrund konnte Emmanuel Mitte Juli bei einem Treffen der europäischen Sektion von Afrique-Europe-Interact ganz frisch von der aktuellen Situation der Geflüchteten und Migrant_innen in Marokko berichten. Entsprechend verdankt sich unser neuer Newsletter in erster Linie dem Bericht von Emmanuel, wozu auch ein Interview gehört, das dieser mit einer derzeit im Rasthaus lebenden Bewohnerin geführt hat.

2. Zur aktuellen Situation der Geflüchteten und Migrant_innen in Marokko

In Marokko wird seit kurzem ein neues Gesetz angewandt, obwohl es formell noch gar nicht verabschiedet ist (Stand: Juli 2016): Danach darf in Marokko nicht mehr gebettelt werden – und das, obwohl viele Geflüchtete und Migrant_innen aufgrund fehlender Arbeitsmöglichkeiten oftmals keine andere Wahl haben, als zu betteln. Damit wir uns eine Vorstellung machen können, auf welche Weise dieses Gesetz durchgesetzt wird, sei hier kurz auf den letzten Besuch des Königs in der nordostmarokkanischen Stadt Oujda unweit der algerischen Grenze verwiesen: Nicht nur bettelnde Menschen wurden inhaftiert und später zur algerischen Grenze gebracht, sondern auch alle (mutmaßlich) aus Subsahara-Afrika stammenden Geflüchteten und Migrant_innen, die aufgegriffen werden konnten. Doch damit nicht genug: Bei der dortigen Grenze gibt es einen sieben Meter tiefen Graben. In diesen wurden Männer, Frauen und Kinder als Abschreckungsmaßnahme gestoßen. Dennoch haben Flüchtlingsorganisationen wie die IOM, der UNHCR oder das Rote Kreuz nicht auf diese Übergriffe reagiert, wie Emmanuel, der selber vor Ort war, beobachten konnte.

Natürlich bringt das Verbot zu betteln auch viele Frauen in Rabat in eine noch dramatischere Lage als ohnehin. Entsprechend berichtete Emmanuel Mbolela vom Selbstmord zweier Kongolesinnen. Außerdem wurden einmal mehr Berichte bekannt, wonach insbesondere nigerianische Frauen von Nigerianern wie Sklavinnen zum Betteln und zur Prostitution gezwungen werden.

Wie in den Vorjahren versuchen während der Sommermonate viele Frauen und Männer, mit Booten über das Mittelmeer nach Europa zu gelangen. Sie leben zuvor monatelang ungeschützt in den Wäldern nahe der Küstenstadt Nador. In diesem Zusammenhang hat uns leider auch die traurige Nachricht erreicht, dass Marta, eine der ersten Frauen im Rasthaus, im Mittelmeer ertrunken ist.

Emmanuel berichtete außerdem von den für die Mittelmeer-Passage völlig unzureichenden Schlauchbooten. Um so menschenverachtender ist es, dass Geflüchtete und Migrant_innen selbst dann von den mit Messern bewaffneten Schleusern gezwungen werden, die Boote zu besteigen, wenn sie dies mit Blick auf die maroden und kleinen Boote ablehnen.

3. Umzug der 2. Rasthauswohnung

Ende März erlebten die Bewohnerinnen der zweiten Rasthauswohnung eine böse Überraschung: An der Wohnungstür war ein in arabischer Schrift verfasster Brief eines Gerichts angebracht. Das Appartement sei beschlagnahmt worden, da der Vermieter die Immobilie auf Kredit gekauft und diesen nicht mehr abbezahlt hätte. Das Haus solle also versteigert werden, weshalb alle Mieter ausziehen müssten. Das Rasthaus-Team fand glücklicherweise schnell ein anderes Appartement in Hay Nada I, einem bekannten Stadtteil in Rabat. Diese Wohnung ist größer als die vorige. Sie hat drei Schlafzimmer, eine Küche, Dusche und Toilette und ein kleines Wohnzimmer. Zehn Frauen können darin unterkommen. Kaum war die Wohnung gefunden, wurde eine Frau aufgenommen, die kurz vor dem Entbindungstermin war. Nur wenige Tage nach ihrer Ankunft brachte sie einen kleinen Jungen zur Welt.

Die Frauen haben den Rasthauswohnungen mittlerweile einen Namen gegeben: Baobab. Der Name leitet sich ab vom Baobab-Baum, einem der wichtigsten Bäume in Afrika: Er ist extrem nützlich (in der afrikanischen Naturmedizin findet nahezu jeder Teil des Affenbrotbaumes Verwendung), zugleich ist er ein sozialer Ort, unter dem oft Märkte und Versammlungen stattfinden.

4. Schulbildung für Kinder von Migrantinnen

Im letzten Newsletter berichteten wir von unserem Vorhaben, Privatschulplätze für Kinder zu finanzieren (da viele Kinder von Migrant_innen aus unterschiedlichen Gründen keinen Zugang zum Schulsystem in Marokko haben). Inzwischen ist jedoch deutlich geworden, dass dies nicht nur zu teuer wäre, sondern auch die ohnehin bestehende gesellschaftliche Marginalisierung der Kinder bzw. ihrer Familien einmal mehr vertiefen würde. Es soll daher jetzt versucht werden, in einem ersten Schritt ca. 30 Kinder in öffentlichen Schulen unterzubringen. Allerdings zögern noch viele Eltern, da sie in staatlichen Schulen den Einfluss des Islam auf ihre Kinder fürchten. Entsprechend hat das Rasthaus-Team Sensibilisierungsgespräche mit den Eltern begonnen: Bildung sei ein Menschenrecht, zudem würden sich Kinder leichter radikalisieren, die keine Schule besuchten, als solche, die in die Schule gingen, so Emmanuel Mbolela. Der Schulbesuch soll nicht nur Kindern von Frauen, die im Baobab untergekommen sind, ermöglicht werden, sondern auch Kindern von Geflüchteten, die schon länger in Rabat leben. Manche der Kinder sind seit ihrer frühen Kindheit auf der Flucht, ohne jemals eine Schule besucht zu haben. Emmanuel beschreibt den Zustand und die Zukunft dieser (oftmals jahrelang in Rabat lebenden) Kinder als „ein stilles Drama“. Wir gehen von ca. 30 Euro monatlich pro Kind aus, um dessen Schulbesuch zu ermöglichen. Hiervon sollen nicht nur Schulmaterialien und Transportkosten bezahlt werden, vielmehr sind auch Ausgaben für Kleidung und Essen vorgesehen – beides Voraussetzung dafür, um halbwegs stressfrei lernen zu können. Hinzu kommt, dass viele Kinder von Migrantinnen keine Geburtsurkunde haben. Diese ausstellen zu lassen, kostet nach Auskunft einer Organisation, die bei den marokkanischen Instanzen und bei den Botschaften hierfür vorsprechen, rund 15 Euro (Gerichts- und Anwaltskosten). In der Praxis wird sich erweisen müssen, ob dieser vergleichsweise niedrige Preis tatsächlich zu halten ist. [Nachtrag von Anfang September: Durch eine unerwartete größere Spende konnte das Projekt mit den 30 Kindern mittlerweile begonnen werden.]

5. Wer im Rasthaus unterkommt?

Eine der Bewohnerinnen ist Nadège, im Gespräch mit Emmanuel Mbolela hat sie von den Umständen erzählt, die sie dazu gebracht haben, Burkina Faso zu verlassen:

Mein Vater hat mehrere Frauen, zusammen sind wir 30 Kinder. Ich hatte das Pech, bei meinem Vater und meiner Mutter das einzige Mädchen zu sein und ich fühlte mich schrecklich. Der Rest meiner Geschwister mochte mich nicht leiden und ich hatte das Gefühl, eine Waise zu sein. Das heißt bei meinem Vater gibt es 29 Kinder und mich und bei meiner Mutter gibt es 3 Kinder, die sie mit einem anderen Mann hat – und eben mich. Ich hatte das Pech, das einzige Mädchen zu sein. Ich war also ein Teil dieser sehr armen Familie. Ich saß zwischen zwei Parteien und meine Situation war sehr kompliziert. Hielt ich mich zu den anderen Kindern meiner Mutter, mochte mich keiner. Hielt ich mich zu den Kindern meines Vaters, wurde ich auch abgelehnt.

So habe ich beschlossen, Burkina Faso zu verlassen und in die Elfenbeinküste zu gehen. Während der Unruhen nach der dortigen Wahl 2010 habe ich einen Bauchschuss bekommen. Als ich mich davon erholt hatte, habe ich einen Mann kennengelernt, der mir sehr geholfen hat. Er unterstützte mich bei allem, was ich brauchte. In der Elfenbeinküste habe ich zwei Jahre Handelsrecht studiert. Dann bin ich schwanger geworden und der Mann hat mich verpflichtet, zum Islam überzutreten, damit er mich heiraten könne. Ich habe mich geweigert, meine Religion aufzugeben. Daraufhin hat er sich geweigert, mich zu heiraten.

Ich habe das Kind geboren und war allein mit meiner Tochter. Der Mann hat mich verlassen. Ich hatte kein Geld, mich und mein Kind zu ernähren. Ich habe einen Brief an die Schwestern eines katholischen Waisenhauses geschrieben, um sie zu bitten, meine Tochter aufzunehmen. Denn ich wollte das Land verlassen, um für meine Tochter in Europa eine Zukunft zu schaffen. So bin ich Leuten gefolgt, die mich mit einer Gruppe in Kontakt gebracht haben, die Leute nach Europa lotsen. Sie haben 2.500.000 FCFA verlangt – das sind ca. 3.800 Euro. Dann bin ich mit den Leuten mitgegangen. Wir sind durch Mali gezogen, durch die Wüste und kamen nach Algerien. Von dort ging es weiter nach Oujda und schließlich kam ich nach Rabat. Als ich in Rabat angekommen war, habe ich die Schwestern angerufen, um ihnen zu sagen, dass ich jetzt in Marokko bin. Die Schwestern haben mir gesagt, dass sie mein Kind gut versorgen und dass sie beten und fasten werden, damit ich es nach Europa schaffe.

Hier in Rabat haben die Schlepper gesagt, das Geld ist alle und jeder muss neues auftreiben. Eine Frau aus der Elfenbeinküste wurde angerufen und ich bin bei ihr geblieben. Sie hat den Rest des Geldes, das ich hatte, von mir verlangt – das waren 100 Euro. Die habe ich ihr gegeben. Einige Wochen bin ich bei ihr geblieben. Dann hat sie gesagt, ich müsse mich an der Miete beteiligen. Ich hatte aber kein Geld mehr. Da hat sie mir einen Mann gebracht, mit dem sollte ich ausgehen. Das habe ich abgelehnt. Ich habe ihr gesagt, dass ich schon schlechte Erfahrungen mit Männern gemacht hätte. Ich habe eine schmerzliche Erinnerung daran, weshalb ich das nicht wolle. Da hat mich diese Frau aus dem Haus gejagt und ich stand auf der Straße. Jemand hat mich zur Caritas gebracht und die Frau von der Caritas hat mich ans Rasthaus weitervermittelt.

Jetzt bin ich hier und ich möchte nicht mehr leben. Das ist kein Leben. Ich mag nichts essen. Ich verstehe nicht, was mit mir passiert. Eine Frau in meinen Lebensumständen, die ein Kind in die Welt gesetzt hat und das Kind ist im Waisenhaus, während ich, seine Mutter, am Leben bin……