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März 2016 | „Es geht um Geben und Nehmen“. Ein Gespräch mit Alassane Dicko (Bamako)

Zirkuläre Migration als Entwicklungsmodell in Westafrika und die fatalen Folgen der repressiven Einwanderungspolitik der Europäischen Union. Das Interview mit Alassane Dicko führte Olaf Bernau Anfang Februar in Bamako. Das Gespräch ist erstmalig in der Zeitschrift südlink (Nr. 175) im März 2016 erschienen.

Olaf Bernau: Bei einer Anhörung im Deutschen Bundestag hast du im Juni 2014 ausgeführt, dass Migration schon seit langem in den zyklischen Abläufen der malischen Kultur verankert sei. Was heißt das konkret und welche Zusammenhänge bestehen zur Migration nach Europa?

Alassane Dicko: Hinsichtlich Europa – um mit dem zweiten Teil der Frage zu beginnen – sei exemplarisch auf die Region Kita im Westen Malis verwiesen. Die französische Kolonialmacht hat dort systematisch den Anbau von Erdnüssen forciert, die in Europa weiterverarbeitet wurden. Hierdurch haben die ansässigen Communities [M.K.1] wie die Malinka oder die Sarakolé bereits früh Kontakt mit den Weißen beziehungsweise mit Frankreich bekommen. Im Zweiten Weltkrieg wurden sodann viele Männer zwangsrekrutiert, um in der französischen Armee gegen Deutschland zu kämpfen. Nach dem Krieg war Frankreich auf männliche Arbeitsmigranten angewiesen, und auch hier hat Kita als Anwerberegion eine wichtige Rolle gespielt. Insgesamt heißt dies also, dass sich unsere ohnehin bestehende Bereitschaft zur Arbeitsmigration schrittweise mit Europa verknüpft hat. Denn begonnen hatte es bereits früher, als zunächst Händler, Koranschüler und Marabouts (islamische Heilige; Anm.der Red.), später auch junge Arbeitsmigranten überall in West- und Nordafrika unterwegs waren. Letztere brachen normalerweise nach der Regenzeit auf, wenn die Ernte eingebracht war. Meist für 4 bis 6 Monate, sodass sich unsere zirkulären Bewegungskreisläufe tief in unser Leben und somit in unsere Kultur eingeschrieben haben. Das ist auch der Grund, weshalb wir weniger von Migration als vielmehr von Mobilität beziehungsweise Ortsveränderung sprechen: Gehen und zurückkehren, voranschreiten, entdecken, sich besser kennenlernen, vom ersten Tag an die Rückkehr vorbereiten, nicht vergessen, wo man herkommt – unsere Kultur hält eine Vielzahl an Sprichwörtern und Lebensweisheiten bereit, die unsere Mobilität begleiten, die Orientierung in dem geben, was heute Migration genannt wird.

Was bedeutet dies praktisch: Ist die zirkuläre Migration noch ein wirkliches Phänomen oder handelt es sich im Lichte zunehmender Migrationskontrollen um eine Art Auslaufmodell?

Bis heute ist die an den Rhythmus der Regenzeit angelehnte zirkuläre Mobilität ein nicht wegzudenkender Faktor in vielen westafrikanischen Ländern. Und doch ist die Frage sehr berechtigt, denn die zirkuläre Mobilität nach Mauretanien, Algerien, Libyen oder in die Elfenbeinküste nimmt seit vielen Jahren ab. Vor allem drei Gründe sind zu nennen: Erstens haben in den 1980er und 1990er Jahren mehrere Wellen von Massenausweisungen von AusländerInnen aus Ghana und Nigeria stattgefunden, später auch aus der Elfenbeinküste und einigen der zentralafrikanischen Länder. Folge war, dass die traditionelle Reisefreiheit in Westafrika starken Schaden genommen hat. Übrigens auch mit Unterstützung der EU, die seit rund zehn Jahren viele afrikanische Regierungen beim Ausbau eines Grenz- und Passregimes gezielt unterstützt. Zweitens ist es seit Anfang der 1970er Jahre zu massiven Verschärfungen bei den Einwanderungs- und Aufenthaltsgesetzen in Frankreich gekommen, wodurch zahlreiche MigrantInnen in die Illegalität abgedrängt wurden. Drittens hat die EU in den vergangenen 25 Jahren ein brutales System der Blockade gegen unsere Mobilität errichtet, nicht zuletzt unter systematischer Einbindung der nordafrikanischen Länder.

Bedeutet das umgekehrt, dass du in der zirkulären Migration einen Gegenentwurf zur repressiven EU-Migrationspolitik siehst?

Ja, sicherlich! Europa muss endlich begreifen, dass ursprünglich nicht nur das Mittelmeer, sondern auch die Wüste Räume des Kontakts und der Verbindung waren. Wir selbst kennen die Zirkularität bis an die Küsten des Mittelmeers. Bis zum Jahr 2000 gab es kaum AfrikanerInnen, die in kleinen Booten nach Europa übergesetzt sind. Die Fischer aus Senegal und Mauretanien sind zwar zum Fischen Richtung Kanarische Inseln aufgebrochen, sie kannten die Wege, sie sind aber nicht rübergefahren. Konkreter formuliert: Die zirkuläre Migration ist kein Konzept aus einer, sagen wir, westlichen Sprache. Sie ist auch mehr als ein Konzept, sie ist ein Paradigma, unser Paradigma – unser Beitrag zur Weiterentwicklung der Menschheit. Es ist ein menschliches Prinzip, die Energien zirkulieren zu lassen. Es geht um Migration, um Bewegung, um Geben und Nehmen. Das sollte Europa fördern, nicht blockieren. Denn sobald man diese Bewegung behindert, gibt es Desorientierung. Und das führt unvermeidlich zu Dramen. Und wenn immer härtere Maßnahmen ergriffen werden, vergrößert und verstärkt das nur diese Dramen. Wir sind schon lange von einer zyklischen Bewegung zu einem Zyklus der tödlichen Bewegung übergegangen. Entmenschlichen wir also nicht die Menschheit – um nicht weniger als dies geht es!

Worin bestanden die Verschärfungen der französischen Einwanderungspolitik und wie haben diese die Bewegungen der Migration zwischen Mali und Frankreich beeinflusst?

Für diejenigen, die in den 1950er und 1960er Jahren nach Frankreich gekommen sind, waren die ersten zehn Jahre eine relativ gute Zeit. Doch dann gab es plötzlich andere Kriterien für die Erneuerung ihrer Aufenthaltsdokumente, sodass Leute, die bis dahin Papiere mit sechs oder zwölf Monaten Laufzeit hatten, auf einmal zu Sans Papiers gemacht wurden. Das Gesetz hat zudem die Frist zur Erteilung einer unbefristeten Aufenthaltserlaubnis von 10 Jahren auf 15 Jahre hochgesetzt, teils auch ganz abgeschafft. Es gab Leute, die waren gut integriert. AlgerierInnen, MalierInnen, SenegalesInnen, die Papiere und ihren Haushalt hatten, die Steuern zahlten. Aber von heute auf morgen sagte man ihnen, dass ihre Papiere nicht mehr gültig seien. Die ganze diesbezügliche Widersprüchlichkeit wird bis heute bei den Renten sichtbar. Wer die eigene Rente in seinem beziehungsweise ihrem Herkunftsland ausgezahlt bekommen will, muss sich mindestens sechs Monate pro Jahr in Frankreich aufhalten – ausgenommen ist lediglich die kleine Zahl derer, die von Anfang an mit einem regulären Arbeitsvertrag nach Frankreich gekommen ist. Wegen der hohen Transportkosten und Anstrengungen pendeln die alten Leute jedoch allenfalls zwei- oder dreimal, dann bleiben sie ganz in Frankreich. Genau in diesem Sinne haben zahlreiche Studien gezeigt, dass umso weniger MigrantInnen dauerhaft in den Aufnahmeländern bleiben, je weniger administrative Hindernisse und Schikanen beim Überschreiten der Grenzen errichtet werden. Eine weitere Konsequenz war, dass die MigrantInnen immer stärker auf Familiennachzug setzten, einfach weil sie Angst hatten, ihren Aufenthaltsstatus irgendwann zu verlieren und folglich nicht mehr reisen zu können. Bis dahin waren sie jährlich nach Hause gekommen, manchmal auch nur alle zwei oder drei Jahre. Sie gingen, sie kamen, sie investierten, regelmäßig wurden sie auch durch jüngere Familienmitglieder ersetzt. Das war ein Zyklus – ja, genau das war es!

Ich muss nochmal nachhaken: Glaubst du wirklich, dass die Leute heute angesichts des extremen Wohlstandsgefälle zwischen Europa und Afrika im Geiste der zirkulären Mobilität zurückgehen würden?

Lass mich hierzu zwei Sachen sagen: Die Leute kommen nicht aus Armut, vielmehr haben die meisten ein Projekt – beispielsweise Geld zu verdienen, um einen Lastwagen kaufen oder eine Ausbildung finanzieren zu können. Es ist insofern eher selten, dass Leute an ein und dem gleichen Ort bleiben wollen – es sei denn, die äußeren Rahmenbedingungen zwingen sie dazu. Vielmehr ist davon auszugehen, dass es neben den anziehenden Momenten immer auch Umstände gibt, die die MigrantInnen ins Herkunftsland zurückziehen, vor allem, weil es oftmals verdammt schwierig ist, sich wirklich zu integrieren. Jenseits davon lehnen wir es ausdrücklich ab, Armut zu einer Ursache von Migration zu erklären. Denn der Armutsdiskurs blendet die wirklichen Ursachen von Armut aus und macht uns so zu quasi natürlichen EmpfängerInnen von Entwicklungshilfe. Wir sprechen stattdessen von einem Mangel an Perspektiven, der das Ergebnis davon ist, dass wir unsere reichhaltigen Ressourcen nicht selber nutzen können, dass wir schlechte Regierungen haben, die es bereits seit Jahrzehnten zulassen, dass Afrika seitens der reichen Industrieländer ausgepumpt und betrogen wird.

Was hältst du von den Versuchen der EU, mittels Entwicklungshilfe den Mangel an Perspektiven abzubauen und somit auch Migration abzubremsen?

Wir schämen uns nicht, Hilfe zur Entwicklung anzunehmen. Aber Geld, das an die Annullierung des fundamentalen Rechts auf Bewegungsfreiheit geknüpft ist, lehnen wir ab, ganz davon abgesehen, dass das ohnehin nicht funktionieren würde. Weder Barrieren noch Hilfszahlungen können uns aufhalten. Denn der Kampf gegen die sogenannte irreguläre Migration wäre der Kampf gegen uns selbst. Erinnert sei daher auch daran, dass gerade in Regionen wie Kita viele Schulen, Brunnen oder Krankenstationen einzig deshalb existieren, weil MigrantInnen mit ihren regelmäßigen Rücküberweisungen insbesondere jene Lücken stopfen, die der Staat im Zuge neoliberaler Strukturanpassungsprogramme und ähnlicher Maßnahmen aufgerissen hat.

Alassane Dicko (45) ist ausgebildeter Informatiker. 2006 wurde er aus der Elfenbeinküste nach Mali vertrieben, wo seine Eltern ursprünglich herstammten. Im gleichen Jahr ist er auch aus Belgien abgeschoben worden. Heute lebt er in Bamako und engagiert sich unter anderem in der malischen Sektion von Afrique-Europe-Interact.