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Juni 2016 | Kein “Ja, aber…” für Jennifer (Video mit englischen und französischen Untertiteln)

Allein die Zahlen sind monströs: Mindestens 60.000 Menschen haben laut einer aktuellen Studie zwischen 1996 und 2016 ihr Leben im Mittelmeer verloren. Eine von ihnen war die 6-jährige Jennifer, die am 6. August 2013 bei der Überfahrt von Marokko nach Spanien zusammen mit ihren Eltern ums Leben gekommen ist. Mehrere Aktivist_innen von Europe-Interact kannten die kongolesische Familie aus Marokko und berichteten von ihr. Ausgehend von diesen persönlichen Erzählungen hat die ebenfalls an Afrique-Europe-Interact beteiligte Liedermacherin Franzis Binder ein Lied in Gedenken an Jennifer geschrieben (Klavier/Geige). Es erzählt die Geschichte ihrer Familie und benennt zugleich, wie das Massensterben im Mittelmeer bereits morgen Geschichte sein könnte.

Eine Weiterverbreitung des Liedes ist sehr willkommen! Es kann auch direkt auf Vimeo angeguckt werden (Video: Anne Frisisus).

Gedenken: Tod nach zehn Jahren Flucht (erstmalig veröffentlicht in der taz-Beilage Dezember 2013 von Afrique-Europe-Interact

1996 zu Beginn des ersten Kongokriegs war Gauthier Bandowa 18 Jahre alt und seine spätere Frau Bijoux Nzongo 11 Jahre. Vor dem dritten Kongokrieg, der 2006 begann und bis heute andauert, gelang dem Paar die Flucht. Über ein Jahr brauchten sie, um auf dem Landweg nach Nordafrika zu gelangen. In Marokko wurde ihnen nicht Asyl gewährt, auf das sie als Kriegsflüchtlinge sicherlich ein Recht gehabt hätten. Dem Krieg entkommen, mussten sie sich stattdessen versteckt halten, denn Marokko spielt seine Rolle als Grenzwächter der EU vorbildlich. Kurz nach ihrer Ankunft in Rabat gebar Bijou ihr erstes Kind. Da war ihr Mann gerade bei einem rassistisch motivierten Überfall mit einem Messer im Gesicht verletzt worden. Seine – illegale – Behandlung organisierte eine örtliche Kirchengemeinde, genauso wie die – illegale – Geburt von Jennifer. Es folgten Razzien in der Wohnung und Festnahmen auf der Straße, begleitet von der ständigen Angst vor einer Abschiebung in die algerische Sahara. Wie Tausende andere saß die junge Familie über Jahre in Marokko fest, mal in Rabat, mal in Casablanca und zuletzt in Tanger. Den Lebensunterhalt in dieser Situation zu bestreiten, ist fast unmöglich und noch schwieriger wird die Situation mit einem Kind. Auch das Kind musste sich verstecken, an einen Platz in einer Schule war nicht zu denken, dies wird selbst Kindern von marokkanisch-kongolesischen Paaren verweigert. Das Leben gestaltete sich immer komplizierter, erst allein, dann mit Kind. Und nun kündigte sich Anfang des Jahres ein zweites Kind an. Während der gesamten Zeit sahen die Eltern viele Geflüchtete sterben: Wegen des fehlenden Zugangs zu medizinischer Versorgung, wegen rassistischer Überfälle, wegen des Zwanges, den Lebensunterhalt mit allen nur erdenklichen Mitteln zu bestreiten. Einige sterben auch bei dem Versuch, den Grenzzaun zwischen Melilla und Ceuta zu überwinden, die meisten ertrinken auf dem Weg nach Spanien, auf einer Strecke, für die die Fähre gerade mal 1 Stunde und 15 Minuten braucht. Für Bijou und Gauthier war klar, dass sie diesen Weg nicht gehen würden, insbesondere aus Verantwortung für Jennifer. Es war klar, dass sie – wie schon ihr halbes Leben lang – alles darauf gesetzt hatten, ihr Überleben und das Überleben des Kindes zu sichern. Doch nach mehr als 10 Jahren des Lebens in Verstecken, mit der ständigen Angst vor Razzien und Abschiebung, mit dem Wissen, bald für zwei Kinder sorgen zu müssen und mit der schlichten Unmöglichkeit eines Weiter- und Überlebens in Nordafrika, blieb am Ende nur noch die Möglichkeit, ein Schlauchboot in Richtung Europa zu besteigen. Am 6. August 2013 fuhren sie in Tanger los. Ihre Körper sind bis heute nicht gefunden worden, aber Überlebende des Schiffbruchs haben vom Tod der Familie im Mittelmeer berichtet.

Der Bericht basiert auf einer Erzählung von zwei Freunden der Familie, die ebenfalls als Flüchtlinge in Marokkko gelebt haben. Innerhalb unseres Netzwerks zeigten sich etliche AktivistInnen schockiert und aufgewühlt (S.4).