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Juni 2010 | Nützt Migration der Demokratie? Beobachtungen in Mali, im 50. Jahr der Unabhängigkeit.

Von Charlotte Wiedemann

Ist Migration allein schon deshalb gut, weil die Europäische Union die Zuwanderung so sehr bekämpft? Dies ist eine politische und eine moralische Frage. Meistens wird sie moralisch beantwortet, vor allem von jenen, welche der europäischen Festungspolitik ein anderes Weltverständnis entgegensetzen, eine Konzeption von Reisefreiheit für alle und offenen Grenzen. Und liegen die Vorzüge von Migration nicht auf der Hand? Die auswärtigen Arbeitskräfte schicken viel Geld nach Hause, sie betreiben Armutsbekämpfung aus eigener Kraft.

Selten wird gefragt: Was bedeutet es für die Herkunftsländer der Migranten, für ihre innere politische Struktur, wenn Millionen ihrer Bürger quasi zu im Ausland aufgestellten Geldautomaten werden? Und was geschieht mit einer Gesellschaft, deren Jugend darin zunehmend das einzige Modell für ein erfolgreiches Leben sieht? Mit anderen Worten: Kann massenhafte Orientierung auf Migration Teil eines progressiven Gesellschaftsentwurfs sein? Wohlbemerkt: progressiv für die Herkunftsgesellschaften! Und nicht eine kleine weiße moralische Progressivität für uns, die wir uns ein offeneres Europa wünschen.

Die Migration als politische Frage aufzuwerfen, das ist angebracht in einem Jahr, da zahlreiche Länder Afrikas das 50jährige Jubiläum ihrer Unabhängigkeit begehen – begleitet, bei aller Unterschiedlichkeit, von zwei Phänomenen: dem Wunsch vieler Jugendlicher, nur irgendwie abhauen zu können. Und einem offensichtlichen Mangel an Identifikation mit dem eigenen Staat, seiner Verfasstheit, seinen Organen und Repräsentanten.

Am Beispiel Mali: Der große Flächenstaat in der Sahelzone ist für unser Thema in mehrfacher Hinsicht interessant. Denn einerseits gilt Mali selbst unter den Afrikapessimisten als „besseres Land“, demokratisch, friedlich, ohne interethnische Konflikte. Kulturell überdies reich, siehe seine Musik, deshalb auch als Reiseland attraktiv. Andererseits ist Mali ein klassisches Herkunftsland von Migranten, nicht erst seit kurzem. Etwa ein Viertel der Bevölkerung lebt im Ausland, vier Millionen von knapp 14 Millionen Einwohnern. Nur ein geringerer Teil von ihnen ist in Europa, vor allem in Frankreich, wo die malischen Sans-Papiers in der vorderen Reihe derer stehen, die mit Streiks und Besetzungen für ihre Legalisierung kämpfen. Bemerkenswert auch dies: Auf Druck der malischen Zivilgesellschaft hat sich Präsident Amadou Toumani Touré bisher geweigert, ein sogenanntes Rücknahmeabkommen mit Frankreich zu unterzeichnen, also die Einwilligung in die Abschiebung aus Europa.

Mali ist auch ein Passage-Land für Migranten anderer afrikanischer Nationalitäten, denn der Osten Malis, wo die Sahara beginnt, ist die Pforte zur Wüstendurchquerung. Der malische Pass ist überdies begehrt als falscher Pass, den mit ihm kann man durch weite Teile West- und Nordafrikas ohne Visum reisen.
Aus all diesen Gründen ist Mali ein Schwerpunktland der neueren europäischen Migrationsbekämpfung. Wie ein Symbol für leere Versprechen steht im modernsten Stadtteil der Hauptstadt Bamako ein rosafarbenes Gebäude: ein Pilotprojekt der Europäischen Union, das erste „Zentrum für Information und Migrationsmanagement“ auf afrikanischem Boden. Obwohl völlig von der EU finanziert handele es sich gleichwohl, so wird versichert, um eine „rein malische Einrichtung“, deren Aufgabe indes in Brüssel definiert wurde: „Die legale Einwanderung nach Europa erleichtern, indem es die illegale Immigration eindämmt“. Nicht jeder in Afrika ist mit dieser Orwellschen Diktion vertraut; für einen Moment kam vor der Einweihung im Oktober 2008 das heitere Missverständnis auf, Brüssel eröffne ein Job-Center in der Sahelzone.

Um einem Missverständnis vorzubeugen: Afrika ist trotz der dramatischen Bilder sinkender Boote und der höchsten Zahl Verunglückter keineswegs die wichtigste Quelle von Zuwanderung nach Europa. Dieser Befund der International Organisation of Migration wird durch Zahlen von Frontex gestützt. Selbst in Spanien, dem europäischen Land mit der vermutlich höchsten Quote irregulärer Arbeitskräfte, sind die meisten Migranten nicht aus Afrika gekommen, sondern mit einem Touristenvisum aus Lateinamerika. Gleichwohl hat die irreguläre Einwanderung nach Europa im öffentlichen Bewusstsein oft ein schwarzes Gesicht.

Transitland oder Zielland, das sind Kategorien der Migrationsbekämpfer; die Lebenswirklichkeit hält sich nicht daran. Malis nördlichen Nachbarn, das riesige dünn besiedelte Mauretanien, haben Afrikaner immer schon arbeitssuchend durchwandert. Im subsaharischen Afrika gelten 17 Millionen als Migranten, doch sind die meisten nicht unterwegs nach Europa. So leben in Westafrika zum Beispiel 7,5 Millionen Menschen außerhalb ihres Geburtslandes – aber eben in Westafrika.1 Viele zirkulieren für eine unbestimmte Dauer in einem bisher frei zugänglichen Territorium; sie folgen einer inneren « Migrationskarte », die sich aus den Berichten anderer Wanderarbeiter ständig aktualisiert. Es spricht viel für die Annahme, dass Europa die Summe solch millionenfacher Entscheidungen niemals wird « steuern » können.
Nach einer schwer zu entwurzelnden Legende sind die Folgen von Flucht und Migration white man`s burden. Die progressive Version liest sich so: Die Zuwanderung vor allem aus Afrika sei eine Strafe für den Kolonialismus und schon allein deshalb zu akzeptieren. Doch wer in Afrika flieht oder migriert, bleibt meist in Afrika. Nach UN-Angaben: 83 Prozent von circa zehn Millionen afrikanischer Flüchtlinge bleiben auf dem Kontinent. Allein in der Republik Südafrika halten sich laut Schätzung der Regierung sieben Millionen « Illegale » auf, davon drei Millionen aus Zimbabwe. Südafrika beherbergt also mit seinen 47 Millionen Einwohner ungefähr so viele Irreguläre wie die ganze Europäische Union! Und viel mehr Bootsflüchtlinge als auf Lampedusa kommen im armen Jemen an: Täglich versuchen Verzweifelte aus dem zerfallenden Somalia die gefährliche Überfahrt, täglich fahren Betreuer im Jemen die Strände ab, begraben angeschwemmte Tote.

Wie viele Migranten auf dem Weg nach Europa umkommen, kann niemand sagen. Eine Schätzung spricht von 20 000 in den letzten 10 Jahren. Jeder Dritte verunglücke, sagen die einen, jeder achte sagen andere. Die spanische Regierung schätzte allein die Zahl derer, die 2006 vor den Kanaren ertranken oder verdursteten, auf 6000. Die Zahlen des jüngsten FRONTEX-Jahresbericht erscheinen demgegenüber grotesk unangemessen: 2009 seien zwischen Afrika und Spanien beziehungsweise den Kanaren 71 gestorben und 87 verschollen. Als würden die Migranten, bevor sie ins Boot steigen, eine Kopie ihres Personalausweises an die Frontex schicken.

Wer ein wenig sensibel ist, empfindet Scham beim Anblick der havarierenden Boote. Scham über die europäische Politik, und auch ein Gefühl, schuldlos mitschuldig zu sein an diesem Desaster. Beides verbindet sich häufig mit einem moralischer Reflex: der Idealisierung der Migration und der Heroisierung der Migranten. Zumal jener aus Afrika, deren Notlage man zweifelsfrei zu kennen glaubt. Diese Reaktion ist verständlich, doch sie nährt sich von Mythen, und es sind dieselben Mythen, die bereits in den afrikanischen Herkunftsgesellschaften Schaden anrichten.
Wahlweise gelten Migranten als die „Besten“, die „Stärksten“ ihrer Gesellschaften, als die „Ärmsten“ oder die „Verzweifeltesten“ des Kontinents. Weniges von diesen Superlativen hält Nachprüfungen stand. Die Verzweifeltesten und Ärmsten sind jene, die niemals in die Nähe eines teuren Schlepper-Tickets nach Europa kommen; sie werden in die innerafrikanischen Flüchtlingstrecks gespült, ohne jede Entscheidungsmöglichkeit. Wer sich heutzutage aus Subsahara auf die hochgefährliche Reise in den Norden machen, hat hingegen eine Entscheidung getroffen. Dass es die stumme Macht der Verhältnisse sei, die alternativlos in die Migration treibe, „weil wir sonst verhungern“, das ist eine Selbststilisierung für die Kameras weißer Fernsehteams.

Der Mythos, es seien die Stärksten und Besten, die weggehen, beleidigt ganz nebenbei alle jene, die weiterhin jeden Tag mit der Hacke aufs Feld ziehen – also die Masse der Schwarzafrikaner. Und die Stilisierung zum Stärksten und Besten schlägt ohne Gnade auf den Migranten selbst zurück, wenn er mit leeren Händen heimkehrt. Trotz tausendfacher Abschiebungen und hundertfachen Ertrinkens: Ein glückloser Heimkehrer wird zu Hause als individueller Versager behandelt. Sein Scheitern bedeutet Schande und Schuld, selbst wenn er als Abgeschobener in Handschellen ins Flugzeug gezwungen wurde. „Die Ausweisung wird von seiner sozialen Umgebung nicht verstanden“, sagt Mamadou Keita, Generalsekretär der Association Malienne des Expulsés, einer Selbsthilfe-Organisation von Abgeschobenen. „Man hält den Rückkehrer für einen Delinquenten oder für unfähig. Oder die Rückkehr wird sogar als Fluch gedeutet. Die Reaktion der Gemeinschaft kann dramatisch sein.“ Viele Heimkehrer wollen wegen der Stigmatisierung nicht zurück in ihr Heimatdorf. Manche nehmen sich sogar das Leben.

Warum diese Verachtung? Warum so wenig Mitgefühl, so wenig Solidarität mit dem traurigen Heimkehrer? Wie kann es sein, dass auf das Trauma der Abschiebung noch ein Trauma der Ankunft folgt? Am leichtesten zu verstehen sind materielle Gründe: Wenn die Familie ihre einzigen Rinder verkauft hat, um die Reisekosten aufzubringen, reißt das Scheitern des Migranten alle mit in die Katastrophe. Doch häufig hat die Verachtung eher kulturelle Gründe; sie hat mit der Sozialpsychologie, mit den Werten und den Ehrvorstellungen der Gesellschaft zu tun, und das gilt vor allem dort, wo – wie in Mali – eine zeitlich begrenzte Arbeitsmigration seit vielen Jahrzehnten im Lebensrhythmus von Familien, Dörfern, Gemeinschaften verankert ist.

Das Abenteuer der Migration war dort früher für die männliche Jugend gleichbedeutend mit dem Schritt ins Erwachsenwerden. Weil die irreguläre Reise heute so kostspielig geworden ist, sind die Migranten bereits Spätstarter; kehren sie dann ohne Erfolg zurück, sind sie gleichsam nie erwachsen geworden.
Die Idealisierung der Migration, die Verbindung von Männlichkeit und Migration hat ihren festen Platz in der Folklore. In Mali verstarb vor kurzem ein bekannter Griot, der 30 Jahre lang das hohe Lied auf die Migrationswilligkeit gesungen hatte. Griots preisen von alters her die Heldentaten eines Mannes (manchmal auch die einer Frau) und die der Ahnen, sie formen das Geschichtsbild, früher zogen sie an der Seite der Kämpfenden in den Krieg. In aktuellen Fall puschte der Griot viele Zögernde in die Migration, zu schmachvoll war in seinen Liedern das Zuhausebleiben. Wer nicht migrieren will, ist ein Schwächling, ein Stubenhocker; in der Soninke-Sprache werden sie „Klebenbleiber“ genannt, sie sind unreif, faul und feige. Niemanden wundert‘s, wenn sie keine Frau finden.

Die Familienstrukturen: In einer malischen Großfamilie herrscht nicht nur der berühmte Zwang zur Solidarität, sondern auch viel Rivalität. Mit Erfolg und Misserfolg des Migranten steigt und fällt der Status einer Reihe anderer Familienmitglieder. Alle, die auf ihn gesetzt haben, verlieren mit ihm, vor allem die Frauen, Mütter, Schwestern. Weil es für die Frauen am schwersten ist, ihren Status durch eigene Leistung anzuheben, entlädt sich ihre Enttäuschung oft in besonders bitterem Spott über den glücklosen Bruder oder Cousin. Dass er viel gewagt hat, dass er womöglich sein Leben aufs Spiel gesetzt hat, dass er knapp überlebte und schließlich im Abschiebeknast litt, all das allein zählt wenig. Denn die Ehre gebührt dem, der seine Familie gut versorgt.
Im Idealfall kam früher der älteste Sohn zu einem Zeitpunkt aus dem Ausland zurück, zu dem er von seinem Vater die Rolle des Familienoberhaupts übernahm; nun konnten die jüngeren Brüder reisen. Das alles funktioniert heute nicht mehr; die afrikanische Familienordnung ähnelt einer Marionette, an den Fäden ziehen Konsularbeamte, Visabeschaffer, Schlepper und Schwarzarbeitskontrolleure.

Werden gerade deshalb die alten Ehrvorstellungen so vehement, so gnadenlos verteidigt? Ein Chef de famille, der die Seinen nicht versorgen kann, hat keine Existenzberechtigung. Ein Rückkehrer, der es zu nichts gebracht hat und trotzdem Familienoberhaupt werden muss, befindet sich psychisch in einer aussichtslosen Lage. Es scheint, als würden zwei Dinge völlig unverbunden in vielen Köpfen koexistieren: Einerseits ist das Wissen (und die Empörung) weit verbreitet, welche schwer überwindbaren Hürden Europa gegen die Migration aufgebaut. Andererseits wird das Scheitern trotzdem dem Individuum angelastet. Ein Modell, das in der Vergangenheit Erfolg versprach, hat seine Gültigkeit verloren; aber dieses abstrakte Wissen setzt sich nicht um in Verhalten, in neue Werte, neue Orientierungen. Emotional und sozial hat sich die Gesellschaft der veränderten Realität nicht angepasst. Dieses Phänomen ist gewiss nicht allein afrikanisch: auch andere Kulturen, in denen periodische Arbeitsmigration üblich war, leiden an dieser Bruchstelle.

Afrikanisch mag allerdings sein, dass die Idealisierung der Migration verstärkt wird durch eine fatale Psychologie der Außenorientierung. Alles Gute kommt von außen, von außerhalb Afrikas – die importierte französische Büchsenbohne ist besser als die selbst angebaute Bohne; warum also überhaupt anbauen? Von der Kleidung bis zur Nahrung hat vieles Afrikanische seinen Wert verloren. Solche Minderwertigkeitskomplexe sind nicht allein eine Folge der Kolonialzeit. Wenn sich ein schwarzer Müllmann in Paris oder ein ausgebeuteter illegaler Tellerwäscher in Berlin ein Ansehen in seinem Heimatdorf erarbeiten kann, das ihm durch Feldarbeit niemals möglich wäre, dann hat das natürlich erst einmal mit den Einkommensunterschieden zwischen dem reichen und dem armen Teil der Welt zu tun. Aber es ist auch etwas zutiefst nicht in Ordnung im Seelenhaushalt einer solchen Gesellschaft.

Bildung verliert ihren Wert; denn wer möchte noch auf den langsamen Aufstieg warten, den Bildung möglich macht? Ein Schulleiter, der in einem Land mit vielen Analphabeten früher eine Respektsperson war, verdient umgerechnet 80 Euro. Der Bruder seines Nachbarn verkauft in London gefälschte Uhren auf der Straße und schickt seiner Familie jeden Monat 400 Euro. Wer genießt nun mehr Respekt?
Für das, was nicht in Ordnung ist im Seelenhaushalt der Gesellschaft, bezahlt der glücklose Heimkehrer den Preis. Um der sozialen Verachtung zu entrinnen, wird er sich, wenn es nur irgend geht, bald in den nächsten fatalen Reiseplan stürzen. Und niemand mit kühlem Kopf und moralischer Autorität stellt sich ihm in den Weg. Wo sind die afrikanischen Aufklärer, wo sind die Imame, die junge Leute davon abhalten, zu horrenden Schlepperkosten den Routen des Todes zu folgen?

Es gibt Ausnahmen. Eine Frauen-Initiative im senegalesischen Thiaroye, am Rand von Dakar: Sie besteht aus 375 Müttern, Berichten zufolge sind fast alle die Mütter von Toten. Sie ermitteln gegen die Schlepper, klagen sie den Mordes an; sie gehen in Schulen, um gegen die Migration zu werben. Die Zahl solcher Initiativen ist verschwindend; oft haben sie keine Lobby, keine starken Fürsprecher.
In Mali ist ein seltsamer Markt entstanden: Seitdem die Europäische Union Programme auflegt, um erneute Migration zu verhindern, gründen sich immer mehr Organisationen, die von diesem Geld etwas abbekommen wollen. Nun gibt es im Land schon 63 Gruppen von tatsächlichen oder angeblichen Ex-Migranten, manche kehrten bereits vor einem Jahrzehnt zurück. Zwischen den Gruppen ist ein Klima der Konkurrenz und der Denunziation entstanden. Ein ancient migrant zu sein, ein ehemaliger Migrant, das wird nun wie ein Titel gehandelt, wie ein Status, der berechtigt, in den Genuss finanzieller Vorteile zu kommen. Der Jugend, die kaum noch Gelegenheit hat, den Status eines ancient migrant zu erwerben, wird erneut ein Modell vorgeführt, das von den Bedingungen des Nordens diktiert wird – und zu dem sie keinen Zugang hat.

Als der italienische Journalist Gabriele del Grande die Lebensumstände verunglückter Migranten rekonstruierte und in ihren Milieus nach den Gründen für die Ausreise forschte, notierte er über einen 22jährigen Afrikaner: „Mit Afrika ist er fertig.“ Korrupte, unfähige Regierungen sehen solche jungen Männer gern gehen: Migration statt Rebellion. So nährt und stärkt eine verhängnisvolle Allianz die Sucht, bloß wegzukommen: ruchlose Schlepper. Geldgierige Marabouts, die Fetische fürs Überleben verkaufen. Larmoyante Oberklassen. Und geltungssüchtige Dorfchefs, die eine prächtigere Moschee aus Migrantengeld haben wollen als das Nachbardorf.

Aber bewirkt Migration nicht auch viel Positives? Die Überweisungen von Migranten nach Hause betrugen 2009 weltweit 308 Milliarden US-Dollar, das ist viel mehr als die offizielle Entwicklungshilfe. Die Überweisungen ernähren Millionen Familien, versorgen Dörfer mit dem Nötigsten. Doch der Beitrag zur Armutsbekämpfung wird chronisch überschätzt, und die Zahlen blenden. Denn nach Europa wird fast viermal mehr Geld überwiesen als nach Afrika. Nur etwa zehn Prozent der eben genannten Summe kommen in Afrika an, also 30 Milliarden Dollar. Und dort profitieren die Ärmsten wiederum am wenigsten. Auf der internationalen Rangliste der Länder mit den meisten Rücküberweisungen kommt erst an siebter Stelle ein afrikanisches Land: ausgerechnet das ölreiche Nigeria. (Dass mehr staatliche Entwicklungshilfe Migration überflüssig machen würde, ist übrigens wiederum ein Mythos – gutgemeint, aber wissenschaftlich nicht haltbar. Migration nimmt mit steigender Entwicklung noch zu; ein Wendepunkt, der sogenannte „Migrationsbuckel“, ist erst bei einem Bruttonationaleinkommen von 4000 US-Dollar pro Kopf erreicht; davon ist das subsaharische Afrika unendlich weit entfernt.)

Die Überweisungen der Migranten sind eine Hilfe ohne politisches Mandat; sie schaffen keine kollektive, nachhaltige Perspektive für die nächste Generation. Anders gesagt: Gerade die Überweisungen sind ein Beispiel für verschenkte Macht. Die Migranten im Ausland sind die Besserverdienenden, quasi eine exterritoriale Mittelklasse; aber sie verschenken ihre Macht, sie verzichten auf jeglichen Einfluss als Staatsbürger. Am Beispiel der Philippinen: Die Gesellschaft hängt am Tropf der Auslandsüberweisungen, jeder vierte Werktätige arbeitet in Übersee. 16 Milliarden Dollar werden jährlich überwiesen, damit sind die Philippinen nach Indien, China, Mexiko weltweit auf dem 4. Platz. Aber die Macht im Staat, sie bleibt Jahrzehnt um Jahrzehnt in den Händen der korrupten, feudalen Großgrundbesitzer.
Aus all dem ergibt sich eine große und schwierige Frage: Ist es allein progressiv, für das Recht auf Migration einzustehen? Ist es möglich, der Migration entgegenzuwirken, ohne die Abschottungspolitik der Europäischen Union zu unterstützen, ideologisch oder praktisch?

Europa hat der Migration den Krieg erklärt, und manche jungen Migranten sehen sich reziprok als Kämpfer, als Soldaten in diesem Krieg. Ihre verunglückten Kameraden nennen sie „Gefallene“. Doch aus der Parole Europa oder der Tod! spricht eine entsetzliche Resignation; sie ist eine Bankrotterklärung Afrikas. Die Schlacht müsste anderswo geschlagen werden: wenn die jungen Leute mit der Kraft, dem Wagemut und der Hartnäckigkeit, die sie durch die Sahara und über die Meere treibt, ihren Regierungen entgegenträten. Um ein Leben zu fordern, das es wert ist, nicht auf See weggeworfen zu werden. Ohne Zweifel: In einer Epoche, in der legale Reisefreiheit weitgehend das Privileg von Weißen oder Reichen geworden ist, gilt es Bewegungsfreiheit und Migrationsfreiheit zu fordern. Aber wir sollten uns hüten, die Migration zu verherrlichen. Für die betroffene Gesellschaft ist der massenhafte Wunsch nach Migration ein Unglück. Denn die Orientierung auf Migration bekräftigt die vermeintliche Nicht-Änderbarkeit der Verhältnisse. Die massenhafte Orientierung auf Migration ist bereits ein Produkt der politischen Resignation, und sie verlängert diese Resignation ins Unendliche.

Senegal hat das Jubiläum seiner Unabhängigkeit bereits im April gefeiert. Zu diesem Anlass hat Abdoulaye Wade, der 82jährige Präsident, der Staatskasse den stolzen Betrag von umgerechnet 28 Millionen Dollar entnommen und davon ein Monstrum von Denkmal errichtet, das von weiten Teilen der Bevölkerung abgelehnt wird. Das 50 Meter hohe Ungetüm, eine Vater-Mutter-Kind-Gruppe in stalinistischer Ästhetik, soll die afrikanische Renaissance symbolisieren. Tatsächlich bezeugt das Monument, wie ein Land zur Geisel eines verschwendungssüchtigen Greises werden kann. Von den Eintrittsgeldern der Touristen, die mit einem Aufzug in das Monstrum hinauffahren können, will Wade ein Drittel für seine Privatkasse beanspruchen: Denn er habe ja die Idee gehabt. Wie ist es möglich, dass sich Präsidenten so etwas herausnehmen können? Zugleich findet man in Senegal kaum einen Jugendlichen, der nicht von Migration träumt.
Der Kameruner Achille Mbembe, einer der bestangesehensten Intellektuellen Afrikas, benennt in einem Essay zum Thema 50 Jahre Unabhängigkeit die fünf wichtigsten Tendenzen, die Fortschritt in Afrika verhinderten. Eine davon sei: der millionenfache Wunsch, anderswo zu leben als im eigenen Land. „Le désir generalisé de défection et de désertion“. Von der Fahne laufen, desertieren, so nennt er es. Ein Vokabular, das uns nicht zusteht.

Zum Schluss noch einmal Mali: Aus Sicht Europas eine Demokratie, aber die Menschen fühlen sich davon nicht betroffen. Es ist nicht ihre Demokratie, nicht ihr Staat. Im Parlament wird die Kolonialsprache Französisch gesprochen, eine Sprache, die nur Malier mit Schulbildung sprechen, also eine Minderheit. Und doch rebellieren die meisten nicht gegen den Umstand, dass sie sich ausgeschlossen fühlen von allem, was jenseits der Dorfgrenzen passiert. Es scheint leichter, eine enorme Summe für einen Schlepper aufzutreiben und sich auf eine hochgefährliche Reise nach Europa zu machen, als ein wenig Mitsprache im eigenen Land durchzusetzen.

Nicht als Vorwurf, sondern als Zustandsbeschreibung ist festzuhalten: Es gibt einen gravierenden Mangel an staatsbürgerlichem Selbstverständnis, und die Orientierung auf Migration ist ein Teil davon. Sie ist, für die Gesellschaft als Ganzes, ein Weg in die falsche Richtung. Wer das verharmlost, nimmt die Herkunftsgesellschaften nicht ernst.
In gutgemeinten Reportagen über jene afrikanischen Länder, aus denen verunglückte Bootsflüchtlinge stammen, werden in billigem Mitgefühl gerne all jene Gründe zitiert, warum jemand dieses Land auf schnellstem Wege verlassen möchte. Diejenigen, die bleiben, unter denselben Bedingungen, sie haben keine Stimme. Sie werden nicht gefragt, sie sind nur Kulisse. Darin spiegelt sich eine Verachtung afrikanischen Lebens, ein Afropessimismus der anderen Art, in einem vermeintlich fortschrittlichen Gewand.

Erstveröffentlicht in: Blätter für deutsche und internationale Politik 9/2010

Copyright: Charlotte Wiedemann 2010