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Kulturelle Kooperation, Pflicht zur Erinnerung und imperialistischer Reflex

Von Richard Djif, Juni 2015

Im vorliegenden Essay geht der aus Kamerun stammende und derzeit als Asylbewerber in Brandenburg lebende Filmemacher Richard Djif der Frage nach, wie Erinnerungs- und Kulturpolitiken bis heute (neo-)koloniale bzw. kolonialapologetische Perspektiven aufrecht erhalten – nicht nur in Europa, sondern auch in Afrika selbst.

Die deutsche Version ist aus Gründen des besseren Verständnisses gegenüber dem französischen Original leicht gekürzt.

Die kulturelle Kooperation zwischen den Angehörigen verschiedener Gesellschaften [Original: peuples] ist der Königsweg, der zur wahrhaftigen Erkenntnis des Anderen führt. Sie erlaubt den Austausch mit ihm, die Annäherung an sein Wesen, das Verständnis dessen, was aus ihm einen Bamiléké [kulturelle Sprachgruppe in West-Kamerun] und nicht einen Inder macht. Diese kulturelle Kooperation wird unterdessen zur Falle, wenn die Reflexe der Beherrschung und Unterwerfung des Anderen die Oberhand gegenüber dem Austausch und den gemeinsamen Interessen gewinnen.

Durch Literatur, Kultur und Kunst garantiert die Menschheit den zukünftigen Generationen das Recht zu wissen und die Pflicht, nicht zu vergessen. Jenseits von Büchern legt die Gesellschaft auch anhand von Denkmälern und Straßennamen Zeugnis ab. Dieses Bemühen um Zeugenschaft, die sogenannte Pflicht zur Erinnerung, ist wichtig und aufklärerisch, solange keine ethnischen, imperialistischen, politischen und ökonomischen Interessen zum Tragen kommen, um das Geschichtsbild zu instrumentalisieren. Um so wichtiger ist es zu fragen, ob die Pflicht zur Erinnerung und die kulturelle Unterstützung nicht Fallen sind, die das Denken der kolonisierten Völker gefangen halten? Es geht also nicht darum, einmal mehr an die klassischen Beherrschungsstrategien zu erinnern, sondern darum, die anderen, unverdächtigen Wege der Neokolonisation zu thematisieren – etwa die Denkmäler, die Unsterblichmachung historischer Fakten und Figuren durch Straßennnamen oder die kulturell-künstlerischen Kooperationen.

Die kulturelle Kooperation zwischen Afrika und Europa – und somit auch zwischen Frankreich und Kamerun – wurde insbesondere durch die französische Seite geprägt, und zwar mittels eines Geflechts unterschiedlicher Organisationen. Hierzu gehören die “Francophonie” oder der “fonds cinéma sud”, die ehemaligen “französischen Kulturzentren” (die Vorläufer der “Französischen Institute”) oder die im Hinterland verstreuten Zentren der “Alliance Franco-camerounaise”, die diverse Regionalprogramme unterstützen. Diese Strategie der Kooperation hat zwar bestimmte Afrikaner, mithin Kameruner ins Rampenlicht gerückt. Ihre Werke sind um die Welt gegangen, ja haben Preise eingebracht. Aber wenn man von der Betrachtung der individuellen Erfolge absieht, muss man feststellen, dass diese Politik der Hilfe und kulturellen Unterstützung die Diversität keinewegs gefördert hat – entgegen des eigentlichen Anspruchs der Francophonie. Erwähnt sei nur, dass Kamerun – ein Land mit einer Größe von 475 000 km² – innerhalb von mehr als einem halben Jahrhundert künstlerisch-kultureller Kooperation mit Frankreich nicht ein Kino oder Theater geschaffen hat, das dem Land würdig gewesen wäre und seine kulturelle Identität hätte widerspiegeln können. Wie sollte es also für anti-imperialistische Künstlerinnen und Künstler möglich sein, die neokolonialen Beziehungen in Frage zu stellen, wenn ihre Arbeiten dazu verdammt sind, durch die Unterstützung der Kolonisatoren emporzukommen?

Die kulturelle Kooperation zwischen Afrika und Europa ist in keiner Weise auf einen kulturellen Austausch bedacht, der frei von Imperialismus wäre. Wie sonst ist es zu verstehen, dass fast alle Direktoren der französischen Kulturzentren aus Frankreich stammen – genauso wie ihre direkten Mitarbeiter und Programmverantwortlichen? Diese Ausrichtung der Kulturpolitik hat es Frankreich erlaubt, die afrikanischen Künstler bin ins Unterbewusstsein zuzurichten – soweit, dass sie selbst auf französisch denken müssen. Die Wege ihres zukünftigen Schaffens verbleiben daher auch oft in dieser Abhängigkeit, d.h. befinden sich im Korsett der unsichtbaren Ketten des imperialistischen Reflexes.

Die Pflicht zur Erinnerung verbindet eine Gesellschaft mit ihren vorangegangenen Generationen und ihren Meilensteinen in der Geschichte. Beispielsweise kann man den Triumphbogen in Frankreich besuchen, die dem Andenken des Märtyrers Patrice Lumumba gewidmeten Statuen in der Demokratischen Republik Kongo, den Platz der Revolution in Burkina Faso oder den Boulevard des 20. Mai in Kamerun. Auf diese Weise konzentriert sich das kollektive Gedächtnis auf die ruhmreichen oder heroischen Seiten der Geschichte, um diese zum festen Bestandteil seiner Identität zu machen. Doch dieses Konzept der Wiederaneignung der historischen Identität ist auch für die imperialistischen Nationen oder ihre Repräsentanten zentral. Denn die Pflicht zur Erinnerung wird auf diese Weise zu einem politischen Instrument, zu einem „neu orientiertem Bewusstsein“ des kollektiven Gedächtnisses. Die neuen Generationen nähren sich von dieser Quelle, um so die Erzählungen von der Größe, des Rassismus und des Neokolonialismus ewig währen zu lassen.

Man hat während des Niedergangs der großen Figuren der Geschichte – von Lenin bis Blaise Compaoré, vorbei an Sadam Hussein, Mobutu Sesse Seko und anderen – gesehen, dass die Vertreibung von Diktatoren stets vom ersten Moment an mit der Zerstörung ihrer Denkmäler einhergegangen ist. Dennoch finden wir an jeder Ecke die Namen der Imperialisten, von den höchstgefeierten bis zu den unbekanntesten. Wir können quer durch Europa fahren und die monumentalen Werke bewundern, die Leopold II, David Livingstone, Otto von Bismarck, Nachtigal, Charles De Gaulle, Winston Churchill und so weiter gewidmet sind. Sie mögen große Helden, Eroberer und Befreier für Europa gewesen sein, doch in Afrika haben sie die Freiheitsträume eines ganzen Kontinents zerstört. In Berlin können wir folgerichtig noch heute Straßennamen wie Afrikanische Straße, Kameruner Straße, Togostraße oder Sansibarstraße finden. Dabei besteht die Ironie bzw. die krasse Heuchelei darin, dass der Westen die Kolonisation einerseits als Verbrechen gegen die Menschlichkeit anerkennt, andererseits jedoch durch die Unsterblichmachung der Straßen das Bemühen stärkt, die heutigen Zeitgenossen an den geschichtlichen Inhalt jedes einzelnen Namens zu erinnern. Konkreter: Diese Straßen sollen daran erinnern, dass Kamerun oder Togo einst deutsche Kolonien waren (und entsprechend alle anderen Länder Afrikas auch). Das erlaubt dem deutschen oder europäischen kollektiven Gedächtnis, die Bande fortwährender Beherrschung und des Rassismus zu festigen, bewusst oder unbewusst. Das sind die Erinnerungen der Schande.

Die europäische Heuchelei, die die Pflicht zur Erinnerung mit dem imperialistischen Reflex verbindet, ist genauso schockierend wie die Unbekümmertheit der Afrikaner, die genau umgekehrt den Reflex des Kolonisierten aufrecht erhalten. Zahlreich sind die Denkmäler und Straßen in Afrika, die den Kolonisatoren gewidmet sind, wohingegen die Nationalisten (und somit Anti-Imperialisten) vergessen wurden, die bis zum Tod das Feuer der Freiheit hochgehalten haben. Warum sieht man mitten im Herzen der Hauptstadt Kameruns nach Franzosen benannte Straßen, während die Kameruner, und zwar nicht die geringsten, ausgelöscht wurden? Es geht nicht darum, die Vergangenheit Frankreichs oder Kameruns zurückzuweisen, sondern darum, sich so weit wie möglich von der Beihilfe zur Neokolonisation durch Bild und Architektur zu befreien. Kein Kameruner, der die Geschichte Frankreichs in Kamerun kennt, kann das Denkmal von Doktor Eugene Jamot in Yaoundé verachten. Ebenso kann jeder, der das verhängnisvolle Handeln Frankreichs in den kamerunischen Regionen der Bamiléke und Bassa'a [Kulturelle Sprachgruppen aus der Region des Littoral und aus dem Süden Kameruns] während des Unabhängigkeitskrieges kennt, nicht anders als mit versteinertem Blick die Straßennamen zu Ehren des Generals De Gaulle sehen. Sollte Afrika nicht, um die Erinnerungen der Schande zu dekonstruieren, anfangen, sich von den instrumentalisierten Architekturen und Bildern in seinem eigenen geographischen, psychischen und mentalen Raum zu befreien? Warum kann man nirgends in Deutschland eine Straße finden, die nach Martin Paul Samba benannt wurde, diesem kamerunischen Widerstandskämpfer, der von den Deutschen erschossen wurde und das Licht der Freiheit für sein Volk verkörperte? Warum kein Denkmal in Paris zum Gedenken an Ruben Um Nyobè, diesen Unabhängigkeitsführer und Sprecher des souveränen, kamerunischen Volkes in der UNO, der während des Unabhängigkeitskrieges von den Franzosen entführt und ermordet wurde?

Indem es sich diese Fragen stellt, wird Afrika zeigen, wie die Pflicht zur Erinnerung systematisch vom Westen instrumentalisiert wird. Indem es diese dekonstruiert, wird es verstehen, warum in Europa – der Wiege der Deklaration der Menschenrechte – die Schwarzen weiterhin durch rassistische Gewalt ermordet werden. Es wird verstehen, warum in den Vereinigten Staaten, der ersten Demokratie der Welt, Schwarze von rassistischen Polizisten mitten im 21. Jahrhundert abgeknallt werden, d.h. 200 Jahre nach der „Aufklärung“. Es wird also verstehen, dass es die Pflicht zur Erinnerung ist, die weiterhin dafür sorgt, dass Rassismus, Hass und die Konzepte von den Barbaren und den Zivilisierten so geregelt werden, dass sie die fortwährende Kolonisation des Anderen garantieren. Jenseits des Wirtschaftskrieges und der Politik, vervollkommnet die Instrumentalisierung des kulturellen Austauschs und der Pflicht zur Erinnerung den Prozess der Entfremdung und Unterwerfung, der durch die sogenannten Revolutions- oder Demokratisierungskriege ausgelöst wurde. Ein kleines Kind im Westen kann kein Rassist sein: es sind das kollektive Unterbewusstsein und der imperialistische Reflex, die in ihm sprechen.