Für Bewegungsfreiheit & selbstbestimmte Entwicklung!

Zur neuen Migrationspolitik, zu Rassismus, Widerstand und Kriminalisierung in Marokko

Interview mit L.C. aus Subsahara-Afrika am 4.12.2013 in Rabat /Marokko

Frage: Was ist diese neue Migrationspolitik Marokkos und was denkst Du darüber?

C.: Die neue Politik besteht darin, dass die marokkanische Regierung angekündigt hat, sans papiers zu legalisieren (im Französischen „regularisieren“ genannt), und zwar Fall für Fall nach bestimmten Kriterien: Flüchtlinge, die mindestens fünf Jahre auf marokkanischem Boden leben, werden legalisiert; alle Subsahara-AfrikanerInnen, die seit mindestens zwei Jahren mit MarokkanerInnen verheiratet sind sowie alle ausländischen Paare, die mindestens vier Jahre hier sind und gemeinsame Kinder haben; und alle, die schwer krank sind (was aber noch nicht genau definiert ist) und alle, die einen Arbeitsvertrag über zwei Jahre haben , sollen legalisiert werden. Für mich als Akteur der Zivilgesellschaft, der seit 2005 für MigrantInnenrechte kämpft im Rahmen des Conseil des Migrants Subsahariens au Maroc (CMSM), lautet die Forderung: Legalisierung aller sans papiers und die juristische Anerkennung aller Flüchtlinge sowie deren Legalisierung. Die Regierung hat ein Büro zur Durchführung der Legalisierung eröffnet und hat 850 anerkannte Flüchtlinge gezählt, die eine Aufenthaltserlaubnis bekommen sollen. Diese Politik, die jetzt umgesetzt werden soll, ist eine Konsequenz unseres Kampfs seit 2005, über die wir uns freuen können. Wir müssen wachsam sein, aber es ist ein erster Sieg, ein erster Schritt.

F.: Wie soll die Legalisierung jetzt ablaufen? Müssen die Leute sich bei den Behörden, bei der Polizei melden oder wo sonst? Welche Beweise müssen sie vorlegen?

C.: Der Minister für Migration ist zuständig dafür und es wird ab 1. Januar 2014 Büros in allen Städten Marokkos geben. Es wird auch eine Berufungskommission geben, an die sich z.B. jemand wenden kann, bei dem die Aufenthaltsdauer von fünf Jahren in Frage gestellt wird, mit Unterstützung von Organisationen der Zivilgesellschaft. Für Leute mit Pass ist es relativ einfach, die Anwesenheit von fünf Jahren nachzuweisen. Aber wenn jemand seinen Pass verloren hat oder dieser bei einer Razzia konfisziert wurde, kann er z.B. einen Mietvertrag oder eine Strom- oder Wasserrechnung für seine Wohnung vorlegen.

F.: Sofern er dafür seinen Namen angegeben hat! Kann man auch Zeugen mitbringen, Leute, die einen kennen, und das als Beweis benutzen?

C.: Ich z.B. habe bei der Organisation GADEM eine Fortbildung gemacht, sie kennen mich seit 2006 und können das bezeugen. Ähnliches gilt für die Caritas. Das sind auch Beweise, die man präsentieren kann.

F.: Ich habe gehört, dass in dieser Kommission auch MigrantInnenorganisationen vertreten sein sollen?

C.: Nein, bis jetzt noch nicht. Ich war bei einem Treffen mit dem zuständigen Minister. Bisher sollen in der Berufungskommission Vertreter der zuständigen Ministerien und des (offiziellen) marokkanischen Menschenrechtsrats (Conseil national des droits de l'Homme, CNDH) sitzen, aber keine MigrantInnenorganisationen. Aber wir verhandeln darüber. Gestern hatten wir ein Treffen mit dem CNDH, u.a. über die Zusammensetzung dieser Kommission.

F.: Und wie ist es für diejenigen MigrantInnen, die sich in den Wäldern rund um Ceuta und Melilla aufhalten – können die auch einen Antrag auf Legalisierung stellen?

C.: Jemand, der z.B. bei Oujda illegal über die (algerisch-marokkanische) Grenze gekommen ist und keine Papiere hat, aber z.B. eine Zeit lang Geld vom UNHCR oder einer NGO bekam, kann damit seinen Aufenthalt nachweisen. Oder wenn er krank war und im Krankenhaus behandelt wurde, kann er das als Beleg anführen
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F.: Und wie werden die Leute informiert?

C.: Das ist eine sehr gute Frage! Das ist die Aufgabe der subsaharischen Organisationen. Z.B. wir, der Conseil des Migrants Subsahariens, in dem Communities aus verschiedenen Ländern repräsentiert sind, werden diese Versammlungen mit unseren jeweiligen Landsleuten einberufen, um die Informationen weiterzugeben an die MigrantInnen.

F.: Was für ein Papier werden diejenigen, die legalisiert werden, bekommen und welche Rechte werden ihnen gegeben?

C.: Nehmen wir die gemäß der Genfer Konvention anerkannten Flüchtlinge: Diese sollen eine Aufenthaltserlaubnis zwischen zwei und fünf Jahren bekommen. Auch diejenigen, die keinen Flüchtlingsstatus haben, sollen – gemäß den Forderungen auf dem gestrigen Treffen – eine Aufenthaltserlaubnis für mehr als ein Jahr, mindestens für zwei Jahre bekommen, das ist uns wichtig! Das ist ein Inhalt der Gespräche mit den Ministerien.

F.: Die Legalisierungsperiode wird ein Jahr sein, stimmt das?

C.: Ja, ein Jahr, also bis Ende 2014.

F.: Du hast gesagt, diese Legalisierung sei ein erster Sieg, weil Ihr viel gekämpft habt hier in Marokko. Aber gleichzeitig gibt es Tote an den Grenzen und bei Razzien, und die Zäune von Ceuta und Melilla sollen aufgerüstet werden und an der algerischen Grenze soll eine Mauer errichtet werden. Was ist das für eine Politik? Das ist doch das Gegenteil einer Politik für MigrantInnen. Oder was denkst Du darüber?

C.: Das ist eine gute Frage, und sie muss mit größter Diplomatie beantwortet werden. Zum einen ist es natürlich nicht legal, eine internationale Grenze ohne die dafür nötigen Papiere zu überschreiten. Insofern kann man den marokkanischen Behörden nicht sagen, dass sie ihre Grenzen nicht sichern dürfen. Aber dort Barrieren, Zäune und Mauern zu errichten, ist unakzeptabel!

F.: Und es ist verrückt! Auf der ganzen Welt fordern Menschen Bewegungsfreiheit! Und das, was passiert, ist brutale Gewalt!

C.: Ja, wir kämpfen für Bewegungsfreiheit! In der heutigen Wirtschaftskrise wandern auch Leute aus Spanien nach Marokko aus.

F.: Und ich habe gehört, dass sie auch legalisiert werden sollen?

C.: Ja, das ist so – deshalb sage ich: Es muss Bewegungsfreiheit für alle geben! Wenn ich hier in Marokko bin, zahle ich z.B. 100 Euro Miete und verdiene vielleicht 250 Euro, in Europa verdiene ich 500 Euro und habe viel höhere Kosten – da ziehe ich vor, hier zu bleiben. Man sagt, es gebe nichts in Europa – aber wenn das so ist, warum muss man dann die Grenzen so absichern?

F.: Glaubst Du, es ist der Druck Europas, dass die Grenzen heute so aufgerüstet werden?

C.: Marokko spielt den Grenzwächter für die EU. Es ist die europäische Politik, die den Maghreb-Ländern heute aufgedrückt wird.

F.: Es gibt heutzutage mehr Tote auf dem Meer – was denkst Du, warum das so ist?

C.: Das ist das Ergebnis der europäischen Politik! Ich nutze die Gelegenheit, zu erwähnen, dass ich im Conseil des Migrants vorgeschlagen habe, ein Buch zu schreiben, dass die Subsahara-MigrantInnen allgemein betrifft und die vielfältigen Gründe aufzeigt, warum sie migrieren: politische und ökonomische. Und die Grenzsicherung ist weit davon entfernt, eine Lösung für diese Probleme zu bieten.

F.: Denkst Du, dass viele Subsahara-AfrikanerInnen in Marokko bleiben möchten? Was können sie hier machen? Ist es schwierig, Arbeit zu finden? Gibt es viel Rassismus? Ich kenne ein bisschen die Situation in Tunesien und die Flüchtlinge aus Choucha, die sagen: „Man kann als Subsahara-AfrikanerIn nicht in Tunesien bleiben. Deshalb brauchen wir Resettlement in einem anderen Land, wo wir in Sicherheit leben können“. Die Situation hier in Marokko ist ein bisschen anders. Was denkst Du über die Situation hier, wenn die Leute Papiere bekommen?

C.: Das ist eine wesentliche Frage! Die marokkanische Zivilgesellschaft und die Regierung meinen, die Subsahara-AfrikanerInnen seien hier ungewollt und hätten nur die Absicht, nach Europa zu gehen, d.h. wir seien hier nur im Transit. Das stimmt so nicht. Ich werde die Leute fragen: Es gibt MigrantInnen hier, die habt Ihr zurückgewiesen, und Ihr behauptet, sie könnten sich nicht integrieren. Nein, die Integration funktioniert über die Bewegungsfreiheit! Und wir haben keine Bewegungsfreiheit. Um ein Papier und Rechte zu bekommen, muss man einen Aufenthaltstitel haben. Wir sind hier, müssen jeden Monat Miete zahlen. Aber wie sollen wir das Geld dafür beschaffen ohne Aufenthalts- und Arbeitserlaubnis? So fragen sich viele irgendwann: Warum verschwendest Du Deine Zeit hier? Du bist lange hier, aber irgendwann kannst Du die Miete, das Wasser und den Strom nicht mehr zahlen und Du überlegst, weiterzureisen nach Europa. Das sind die Gründe, warum die Leute nicht richtig hier sein können. Wir brauchen ein anderes Leben! So wie jetzt können wir nicht hier bleiben!

F.: Eure Organisation arbeitet auch mit Organisationen von MarokkanerInnen zusammen. Funktioniert das gut oder gibt es auch Probleme mit marokkanischen AktivistInnen?

C.: Ich begrüße das und danke der marokkanischen Zivilgesellschaft sehr, und es ist gut, dass wir es so weit geschafft haben. Natürlich gibt es auch unterschiedliche Meinungen und Einschätzungen, das ist normal. Aber im Gegensatz zu anderen Ländern des Maghreb wie Tunesien und Libyen, wo die Situation schlimmer ist, sind wir hier einen Schritt weiter. Das ist ein Ergebnis unsere Kämpfe.

F.: Auf der Straße vor uns (gegenüber dem Parlament) ist gerade eine Kundgebung von Arbeitslosen – warum und wie oft findet die statt?

C.: Marokko ist ein Land, in dem es nicht eben wenige Arbeitslose gibt. Es gibt ständig Demonstrationen aus Unzufriedenheit über die Regierung, wegen Korruption, der ungleichen Verteilung des Wohlstands etc.

F.: Das ist wichtig zu wissen, denn in Europa hat man nur von den Revolutionen in Tunesien und Ägypten gehört und nicht davon, dass es auch hier in Marokko starke soziale Bewegungen gibt: für Demokratie, Arbeit usw.

C.: Ja, genau! Der arabische Frühling hat mich hier gefunden, und ich bin während der Demos mit Freunden auch auf die Straße gegangen, um Rechte zu fordern. Die Leute sagten: „Nein, das ist für die MarokkanerInnen!“ Aber sie haben dann begriffen, dass wir in gleicher Situation sind und ähnliche Probleme und Forderungen haben. Wir wollen unsere Rechte!

F.: Hier gibt es ja sogar eine Gewerkschaft von MigrantInnen (die ODT). Kannst Du dazu noch etwas sagen?

C.: Das ist eine Premiere, ja! Die Gewerkschaft ODT oder genauer: ihr Zweig für MigrantInnen ist ein Ergebnis des Conseil des Migrants.

F.: Am 1. Mai habt Ihr als MigrantInnen zusammen mit MarokkanerInnen demonstriert.

C.: Ja, alle Organisationen zusammen haben das gemacht für gemeinsame Ziele.

F.: Ist das nur hier in Rabat so oder auch in anderen Städten Marokkos?

C.: Zu bestimmten Ereignissen gibt es auch Aktionen in anderen Städten, aber hier ist eben der Sitz der Regierung, deshalb gibt es mehr Demos. Aber oft auch welche in Casablanca und manchmal in Tanger.

F.: Kannst Du noch etwas zum Rassismus in Marokko und zu Polizeirazzien sagen, denn es gab ja mehrere Tote deswegen in den vergangenen Wochen und Monaten?

C.: Es gibt offen gesagt ziemlich viel Rassismus hier. Vor allem von Seiten der Polizei bei Razzien, bei denen sie angeblich sans papiers sucht. Aber wenn sie „sans papiers“ sagt, sind alle mit schwarzer Hautfarbe betroffen, also die Subsahara-AfrikanerInnen. Es gibt hier auch ChinesInnen, PalästinenserInnen, Pakistani etc. Aber es ist die schwarze Haut, die sichtbar ist und wir sind die Betroffenen von Razzien und sonstigem Rassismus. Vor kurzem ist ein Senegalese gestorben. Das war bei einer Polizeirazzia in Tanger. Die Polizei kam frühmorgens in die Wohnung mehrerer Subsahara-AfrikanerInnen und wollte ihre Papiere kontrollieren. Moussa Seck wurde auch nach Papieren gefragt und ging dafür ein Stück weg von den Polizisten. Die dachten, er wolle fliehen. Er war in der Küche und wurde dort von der Polizei geschlagen – und stürzte vom Balkon im 4. Stock in den Tod. Zeugen sagten aus, dass er von Polizisten gestoßen wurde. Die Polizei verschwand, ohne einen Krankenwagen zu rufen. Moussa Secks Freund gingen nach unten, und sie fanden ihn noch am Leben vor und riefen die Ambulanz, die ihn ins Krankenhaus brachte. Dort musste er zwei Stunden warten. Ein Aktivist von der Organisation Chabaka intervenierte, aber Moussa starb in der Wartezeit. Der Conseil des Migrants versucht jetzt zusammen mit anderen Organisationen, eine Untersuchung des Falls und eine Anklage gegen die Polizei durchzusetzen.

F.: Willst Du noch etwas zu Deinem eigenen Fall erzählen und zum aktuellen Stand des Gerichtsverfahrens?

C.: Ich wurde im November 2012 festgenommen. Die Polizei kam zu mir nach Hause. Vorher gab es Festnahmen von Subsahara-Afrikanern in bestimmten Vierteln von Rabat. Die AMDH (marokkanische Menschenrechtsvereinigung) hat mich gefragt, ob ich darüber einen Bericht schreiben kann. Ich war gerade dabei, diesen Bericht zu schreiben, als die Polizei zu mir kam, und sie fragten mich, für welche Organisation ich arbeite? Sie nahmen mich fest und brachten mich zur nächsten Polizeiwache. Den Bericht nahmen sie mit. Sie legten mir Handschellen an und befahlen mir, ein Papier zu unterschreiben, was ich verweigerte. Mein Anwalt hat dann gesehen, dass in dem Papier stand, dass sie 30 Kartons und fünf Flaschen Alkohol bei mir gefunden hätten – das hat nicht einmal Platz in meinem kleinen Zimmer!

C.: Ja, das habe ich gesehen, wie klein Dein Zimmer ist! Und sie wollten, dass Du das unterschreibst?

F.: Ja, und sie haben mich dann verhaftet. Ich war zwei Wochen im Gefängnis, aber dank vieler Demonstrationen und Unterstützung kam ich vorläufig wieder frei („liberté provisoire“). Sie haben mich dazu verurteilt, eine Geldstrafe von 3000 Euro zu bezahlen und einen Monat ins Gefängnis zu gehen. Mein Anwalt hat Berufung dagegen eingelegt, und am 27.12.13 und am 14.1.14 muss ich vor das Gericht in Casablanca.

C.: Dazu musst Du uns auf jeden Fall was schreiben, damit wir unsere Solidarität mit Dir ausdrücken können! Vielen Dank für das Interview!

Die Fragen stellte Conni Gunßer. Das Interview wurde auf Französisch geführt und nur ganz leicht gekürzt.